Und wieder hat es zugeschlagen, das „slowakische Phänomen“, unerwartet wuchtig. Zum wiederholten Mal stellte das Land, das in Umfragen regelmäßig das höchste Vertrauen für die europäischen Institutionen ausweist, einen Rekord in der niedrigsten Wahlbeteiligung bei Europawahlen auf. Nur noch 13 Prozent sind wählen gegangen, ein historisches Tief. Robert Fico, der mit allen Wassern gewaschene und mit absoluter Mehrheit regierende Ministerpräsident, reagierte mit einem ungewöhnlichen Geständnis: „Ich bin an einen Punkt gekommen, wo ich slowakische Politik nicht mehr verstehe.“
In diesem faszinierenden Land lebe ich. Am Vorabend der Wahl saß ich in einer Bar. Der Betreiber gesellte sich zu mir. Untertags arbeitet er als Logistiker für das örtliche Volkswagen-Werk. Die Führung verfolgt besessen das Konzept, keine Komponenten auf Lager zu halten, alles muss just in time herangekarrt werden. Der Barmann organisiert das. Er zeigte mir auf seinem Smartphone den Rohbau seines Hauses im Bratislaver Nobelvorort Beverly Hills. Es gibt noch keine Einrichtung, nur der Safe ist bereits eingebaut. Die Frage nach den Europawahlen erstaunte ihn: „Wenn Sie mir das nicht gesagt hätten, wüsste ich nicht, dass morgen Wahlen sind.“ – „Aber die ganze Stadt ist mit Wahlplakaten tapeziert.“ – „Das schaut doch keiner an.“
Seit den 13 Prozent gibt es eine kleine Debatte, eine verzagte Suche nach Ausreden. Das Wetter war aber auch anderswo nicht anders. Das häufig benutzte Argument, die Leute seien „verdrossen“, erklärt nicht alles. Viele Slowaken haben noch nie gewählt – sind die etwa verdrossen auf die Welt gekommen? Noch weniger greift die Erklärung, dass die Slowakei bloß einem europäischen Trend folgt. Zum ersten Mal seit der Einführung direkter Europawahlen 1979 sank nämlich die gesamteuropäische Wahlbeteiligung nicht, in einigen Ländern wie Deutschland stieg sie sogar. Für das Parlament eines halbdemokratischen und zum Verzweifeln komplexen Staatenbunds ist eine Quote von 43 Prozent ziemlich gut, wenn auch nicht befriedigend.
Im Wahlkampf diskutierte Österreich über das Freihandelsabkommen mit den USA, Frankreich über Schengen. Man kann Chlorhühner oder das Aufziehen von Grenzbalken für lächerliche bis gruselige Themen halten, aber auf ihre Weise waren das bereits europäische Diskurse. Zur Sternstunde wurde die Fernsehkonfrontation der fünf europäischen Spitzenkandidaten, als Gericht gehalten wurde über die griechische Tragödie. Der linke Kandidat Alexis Tsipras fragte den Veteranen der Brüsseler Hinterzimmerpolitik auf Griechisch, ob dieser die Rettung Griechenlands für einen Erfolg halte. Jean-Claude Juncker antwortete mit einer Liebeserklärung an Griechenland, auf Französisch.
Diese Debatte sahen im slowakischen Staatsfernsehen 0,6 Prozent der Bevölkerung. Nach Prüfung aller Ausreden komme ich zu dem Schluss, dass mehr als 87 Prozent der Slowaken Europa erstens wurscht ist. Die Slowakei nimmt nicht am Eurovision Song Contest teil, und die bislang einzige Europäische Kulturhauptstadt auf slowakischem Gebiet konnte dem Land nur deswegen keine Schande ungekannten Ausmaßes machen, weil keine Besucher nach Košice fuhren. Zweitens wurde die Demokratie – viele gestehen das auch ein – bis heute nicht angenommen. Die Mehrheit hat das staatsbürgerliche Bewusstsein eines beim Bier maulenden Sklaven, der seinen Volksvertretern, unter denen der Typus des smarten Vaterlandsverkäufers dominiert, nicht auch noch das Gehalt eines Europa-Abgeordneten gönnt.
Nach der Wahl ging ich wieder aus, in eine Kaschemme des ruralen Typs hostinec. Zu meiner Überraschung ging es ein paar Minuten um die EU. „Das mit dem Europa“, hob der Zapfmeister an – so drücken Slowaken die gefühlte Distanz zu Weltgegenden außerhalb der ehemaligen Tschechoslowakei aus. „Wir sind eine Kolonie. Und wenn die Deutschen nicht gekommen wären, wenn unsere Privatisierer noch am Ruder wären, wären wir noch schlimmer dran. Sollen wir etwa das Maul aufreißen? Dann ziehen die Deutschen eben in die Ukraine weiter.“
Das slowakische Phänomen wäre ein begrenztes, würde es nur um die Europäische Union gehen. Die slowakische Wahlbeteiligung bricht jedoch auch im Inland alle Minusrekorde. Die Hälfte der Bürger boykottiert inzwischen langfristig die Demokratie. Bei Kommunalwahlen strömen überhaupt nur 20 Prozent zu den Urnen. Wie soll ein solches Mitglied die EU mitregieren, wenn es schon zur Selbstverwaltung zu verdrossen ist?
Die 13 Prozent erscheinen nun ein paar Tage peinlich, ein Problem hat in Wahrheit niemand damit. Die etablierten Parteien greifen verlässlich ihre Sitze ab, ihr Funktionärsbestand trottet treu zur Wahl. Mancher lobt noch, dass die Slowakei dank Massenlethargie wenigstens keine rechtsextremen Abgeordneten entsendet. Eine billige Werkbank, in der die überwältigende Mehrheit an ihren demokratischen Rechten resigniert. Wenn es die Slowakei nicht schon gäbe, müsste man solche Staaten gründen.
Martin Leidenfrost schrieb in dieser Serie zuletzt über Separatisten in der Schweiz
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