Politchaos in Bulgarien: Am 2. April ist die fünfte Wahl in zwei Jahren fällig

Europa transit Im südwestlichen Ort Selendol erzählt die Wirtin Ljusi Manova, weshalb sie die Partei „Wiedergeburt“ wählt, der Euro der Wirtschaft schaden würde und sie Proteste gegen hohe Energiepreise organisiert hat
Ausgabe 13/2023
Protest: Seit Längerem demonstrieren die Menschen in Bulgarien gegen die Regierung
Protest: Seit Längerem demonstrieren die Menschen in Bulgarien gegen die Regierung

Foto: Johann Rousselot/Laif

Es ist nicht nur das ärmste, wohl auch unglücklichste Land der EU. 2013 gab es in Bulgarien eine Welle von Selbstverbrennungen, und 2020 bis 2022 forderte die Pandemie den zweithöchsten Todeszoll der Welt. Die Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine quält die traditionell russlandfreundliche Nation. Da am 2. April die fünfte Parlamentswahl in zwei Jahren stattfindet, darf man zu Recht von einer Sackgasse sprechen.

Fetttriefende Fritten

Es rührt mich daher, als im Sofioter Regierungsviertel an einer Unterführung jemand eine melancholische Weise fiedelt. Ich werfe wortlos eine Münze in den Geigenkasten – und er spielt Kalinka. Ich will die Stimmung auf dem Land ausloten und wähle – auch weil großbulgarische Obsessionen über Jahre die EU-Beitrittsverhandlungen Nordmazedoniens blockierten – das südwestliche Grenzland.

Ich halte zu Mittag im kleinen Ort Selendol. Da sie von einem ebenso unfertigen wie unförmigen Ziegelrohbau überwuchert ist, wirkt die Dorfkneipe geschlossen. Sie ist aber geöffnet, der vielstündige Stromausfall endlich vorbei, und ich bekomme gute, weiche, wenn auch fetttriefende Fritten.

Die Wirtin ist gegen 50, herzlich und kichert viel. Ihre Weltsicht drückt Ehrerbietung gegenüber dem kommunistischen Diktator Todor Schiwkow (1911-1998) aus: „So viele Jahre ohne Baj Toscho – Tag für Tag wird alles immer schlechter.“ Selendol sei sozialistisch, sagt sie, sie selbst wählt aber inzwischen die neue prorussisch-nationalistische Partei „Wiedergeburt“. Sie zeigt mir die auf dem Tresen aufliegende Petition: „Wollen Sie, dass der Lew bis 2043 Bulgariens einzige offizielle Währung bleibt?“

Die Zahl der Unterschriften kommt schon an die Zahl der Selendoler Wähler heran, die sich im Oktober 2022 noch an der vierten Neuwahl beteiligten. Bulgarien, das sich seit Juli 2020 im Euro-Warteraum befindet, will spätestens 2025 den Euro einführen. Der schwachen bulgarischen Wirtschaft, sagt die Wirtin, bekäme das schlecht.

Die Statuten erlauben es nicht

Ich frage: „Sind Sie politisch aktiv?“ Sie verneint resolut. In anderer Hinsicht ist sie sehr aktiv: Sie gießt lächelnd klaren Schnaps in Mineralwasserflaschen, die zwei ältere Malocher unbehelligt durch die Mittagspause bringen, und kümmert sich um eine junge Blondine, die mit Handy, Kippe und Gummibärchen an einem abgeschiedenen Tisch thront.

Wiederholt läuft ein elegant schwarz gekleideter Funktionärstyp durch, mit der Glätte seiner Haut eine fremde Spezies hier, „der Chef der Sozialisten in Blagoewgrad, ein Freund“, sagt die Wirtin. Ich frage ihn, warum Kornelija Ninowa, welche die einstige Großpartei BSP in fünf Jahren von 27 auf 9 Prozent geführt hat, immer noch seine Vorsitzende ist. Er antwortet: „Weil es die Statuten noch nicht erlauben, ihr politisch den Kopf abzuhacken.“ Für die Wirtin ist Ninowa ein rotes Tuch, seit diese einst einen Privatisierungsdeal mit dem rechtsliberalen Premier Ivan Kostow durchzog.

Die Wirtin ist Pächterin der Wirtschaft und hat ihre Prinzipien. So ist sie gegen den EU-Beitritt Nordmazedoniens. Die Nachbarn würden dank ihres reichen Vieh- und Obstbestandes EU-Förderungen zu Lasten Bulgariens abgreifen. Sie ist sich wohl bewusst, dass der ihre Kaschemme überwölbende Rohbau nach dem Willen des Hausbesitzers ein Motel werden soll. Direkt an der Passstraße nach Nordmazedonien gelegen, würde damit Kundschaft hereinwehen. Darauf verzichtet sie lieber, aus Prinzip.

Selbstverbrennungen vor zehn Jahren

Sie dreht aufgekratzt eine Runde und setzt sich wieder zu mir. Ich frage sie, woher Bulgariens Hoffnungslosigkeit rührt. Ist es die Erosion des gegenseitigen Vertrauens? Sie stimmt mit einem Kopfschütteln zu, erklären kann sie es nicht. Auch sie selbst traut der Partei „Wiedergeburt“ nicht ganz über den Weg. Ich erzähle ihr, wie ich vor bald zehn Jahren den Selbstverbrennungen nachging, ausgelöst von exorbitant erhöhten Stromrechnungen, welche die Bulgaren von den ins Ausland verkauften Energieversorgern bekamen. Da sagt sie ganz ruhig: „Ja, das war ich, ich habe 2013 bulgarienweit den ersten Protest organisiert.“

Sie war nicht immer Wirtin, arbeitete als Gastronomie-Prüferin, betreute einen Chor, organisierte schon 2012 Proteste gegen die Spritpreise. Zu ihrem ersten Strompreis-Protest „kamen 30 Leute, zum zweiten schon 1.000; da wir spontan auf einen nicht genehmigten Platz auswichen, wurde ich verhaftet.“

Ich kann mein Glück nicht fassen: Die Wirtin von Selendol ist eine Figur, in der sich die jüngere Geschichte Bulgariens spiegelt. Sie heißt Ljusi Manova, rebellisch gebürstete Menschen in ganz Bulgarien kennen sie. Ich werde emotional. Beschämt darüber, dass ausgerechnet der Energiekonzern meiner Herkunftsregion Niederösterreich den südostbulgarischen Strommarkt kontrolliert, entschuldige ich mich. Schwöre, das Thema wenigstens in Österreich aufs Tapet gebracht und einen Journalisten-Preis dafür bekommen zu haben. Ljusi lächelt milde.

Listenplatz eins

Wie nebenbei erwähnt sie, dass ihr „Wiedergeburt“ für die anstehende Parlamentswahlein Angebot gemacht hat: den ersten Listenplatz für die Region Blagoewgrad. Damit käme sie ziemlich sicher ins Parlament. Sie sagte aber ab. „Mussten Sie eine Nacht drüber schlafen?“ – „Nein, nur zwei Minuten nachdenken.“ – „Waren Ihr Mann oder Ihre Söhne dagegen?“ – „Die überließen die Entscheidung mir.“ – „Wie soll sich je was bessern, wenn Leute wie Sie nicht in die Parlamente gehen?“ – „Ich engagiere mich ja weiter.“ Sie hält es schlicht für unmöglich, dass man in der bulgarischen Politik tätig sein kann, ohne sich zu beschmutzen.

Ljusis Erwartungen an die fünfte Wahl sind null, einmal abgesehen davon, dass sie fix mit einer sechsten rechnet. Bevor ich gehe, frage ich sie, ob ich sie umarmen darf. Aber natürlich, sagt sie, und wir umarmen uns. Sie kichert nicht mal dabei.

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