Gerade war ich in Budapest auf einer der ersten Demonstrationen des neuen Jahres. Sie war Teil der Proteste gegen das „Sklavengesetz“, das die hoffnungslos zersplitterte Opposition erstmals gegen den national-autoritären Premierminister Viktor Orbán vereinte. Der begann seine Herrschaft im Mai 2010 eigentlich mit Maßnahmen, die einer linken Regierung zu Gesicht gestanden hätten – gesalzene Sondersteuern auf multinationale Banken und Konzerne etwa. Auch setzte man sich für ein Gesundheitssystem ein, das für alle ohne zusätzliche Kosten seine Dienste anbieten sollte.
Später schränkte seine Partei Ungarischer Bürgerbund (Fidesz) allerdings das Streikrecht ein, und vor Weihnachten peitschte sie mit ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament ein neues Arbeitsgesetz durch, das es Unternehmen erlaubt, Mitarbeiter auf 400 Überstunden pro Jahr zu verpflichten. Bei einem Besuch in Düsseldorf verhehlte Außenminister Péter Szijjártó nicht, dass Ungarn damit deutschen Investoren zu gefallen versucht. Die Gesetze würden „die Wettbewerbsfähigkeit des Landes weiter verbessern und den zuvor als Herausforderung angesehenen Fachkräftemangel mildern“.
Sie nennen ihn „Spermie“
Audi und Daimler unterhalten Werke in Győr und Kekskemét, die Gesamtbetriebsratschefs der deutschen Mütter und die IG Metall erklären sich jedoch solidarisch mit dem Widerstand der schwächelnden ungarischen Gewerkschaften. Ich fuhr nach Budapest, um herauszufinden, ob diese Proteste auch Züge einer Arbeiterbewegung tragen.
Gewerkschaftliche Abordnungen aus Großbetrieben waren zur Demo als Erste da. Hauptberufliche Gewerkschafter bestätigten mir, dass das eine Arbeiterbewegung sei, „absolut“, „ja“, „natürlich“. Der Trommler von der Gewerkschaft des Atommeilers Paks sagte: „Einen Scheiß wollen wir die Regierung stürzen, sie soll das Gesetz zurücknehmen. Es ist unsere Pflicht, gegen Gesetze aufzutreten, die das Leben unserer Werktätigen verkümmern lassen.“ Ein Kollege hielt eine Fahne des französischen AKW Flamanville hoch, war aber ebenfalls aus Paks. Auch der Gewerkschafter aus dem Stahlwerk Dunaújváros gab sich maßvoll: „Wir sind dafür, dass über das Arbeitsgesetz neu verhandelt wird.“
Ich ging zum kompaktesten Trupp mit den höchsten Ungarnfahnen. Wie die Stahlgewerkschafter verwiesen mich auch die Rechtsradikalen von „Jobbik“, als ich eine Frau ansprach, an einen männlichen Wortführer. Ein gutaussehender Jüngling, der bald für die „konservative Volkspartei“ ins Parlament nachrückt, kritisierte den „Schlag gegen Arbeitnehmer“, den „Abbau von Rechtsstaat und Demokratie“, „Fidesz tut mehr für multinationale Konzerne als die linksliberalen Vorgängerregierungen“.
Alle anderen Parteien waren lose Grüppchen. Die Rentner-Partei und die Platon-Partei liefen auch mit. Ich sprach mit Sympathisanten der „Partei des zweischwänzigen Hundes“; ihr Hund trug tatsächlich einen hinzumontierten Zweitschwanz. Eine der Sympathisantinnen naschte Mozartkugeln und war Unternehmerin: „Ich könnte das Sklavengesetz missbrauchen, denke aber nicht dran. Bei dem Arbeitskräftemangel geht das gar nicht.“
Infolge von Schneeregen nahm sich die Demonstration auf dem riesigen Heldenplatz eher klein aus. Vier, fünf Tische mit Tröten und Wimpeln, dazu Sprechchöre gegen die „Diktatur“. Ab und zu das Symbol der Bewegung, mit dem Viktor Orbán als „Spermie“ verspottet wird: „Spermie, deine Mutter soll Überstunden machen!“
Viele der Demonstranten, mit denen ich kurze Interviews führte, wünschten sich den Sturz der „hemmungslosen“ Regierung. Eine bürgerliche Dame, Psychologin und „persönlich nicht betroffen“, stand da mit ihrem mondgesichtigen Neffen, der in Frankreich zur Schule ging: „Ich bin elfeinhalb, sollte mich nicht dafür interessieren, wollte aber unbedingt mitlaufen. Ich verfolge auch die Gelbwesten. Das hier ist viel besser. Fensterscheiben einschlagen, das ist nicht normal.“
Auch ein reifer Herr – Baubranche, Kinderwagen, junge Frau – fürchtete das Gesetz nicht: „Ich bin alt und stark genug, um mich zu wehren.“ Das Paar warf der Regierung etwas ganz anderes vor: „Kinder müssen nun schon mit drei Jahren in den Kindergarten, ob die Eltern das wollen oder nicht. Dass sie sich so einmischen!“ Eine junge Frau, deren Eltern eigens aus der Provinz angereist waren, wähnte sich ebensowenig betroffen: „Ich mache viel mehr als 400 Überstunden, denn ich kümmere mich rund um die Uhr um meinen behinderten Sohn.“ Zwar habe die Regierung das Pflegegeld erhöht, „ich will aber, dass dies als Arbeitsverhältnis anerkannt wird“.
Ein Mittelschüler aus einer Kleinstadt wollte zunächst nicht mit mir reden, „dann geben mir meine Fidesz-Lehrer schlechte Zensuren“. Er schimpfte auf die „Propaganda“ mancher Zeitungen, vor allem aber das Staatsfernsehen, „heute melden sie sicher, die Leute kamen, um die Weihnachtsbeleuchtung zu bewundern“. Neben ihm marschierte seine Oma, Putzfrau in einer Schule. Sie erwartete, künftig noch mehr Überstunden machen zu müssen.
Als die Protestler durch die schicke Einkaufsmeile Andrássy út zogen, sahen sie nach etwas aus. Wie immer flanierten junge Shopping-Asiatinnen zu Louis Vuitton. Ich wechselte auf den Bürgersteig. Die Demo erschien mir als bunte soziale Mischung, auch wenn die Budapester Intelligenzija dominierte; meine Dolmetscherin, Mitglied der links-grünen Kleinpartei „Dialog“, hatte unterwegs fortwährend Bekannte und Angehörige gegrüßt.
Aus einem feinen Palais traten einige ältere Anstreicher heraus, ihr Gewand war mit weißer Farbe beschmiert. Ich schaute gebannt hin: Wie würden nun authentische Arbeiter auf eine Kundgebung für Arbeiterrechte reagieren? Einer der Anstreicher ging ein Stück auf die Demonstranten zu, mit vorgerecktem Unterleib und knallender Faust. Er drückte damit aus: Ich ficke euch.
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