Die Israelis wählen zum dritten Mal innerhalb eines Jahres ein Parlament, und wenig spricht dafür, dass sich das Patt am 2. März auflöst. Als widerspenstiger Königsmacher dürfte erneut die ultrarechte Russen-Partei „Unser Haus Israel“ (Israel Beitenu) aus dem Votum hervorgehen, die gegenüber den Palästinensern noch militanter auftritt als die Rechtsregierung von Premier Netanjahu. Zugleich ist sie Anwalt säkularer Juden und will üblicherweise mitregierende religiöse Parteien von der Macht fernhalten.
Ich fahre in den urbanen Siedlungsstreifen, der an den Nordrand des Gazastreifens grenzt. Die von dort abgeschossenen kleinen handgemachten Kassam-Raketen fliegen selten weiter als zehn Kilometer nach Israel hinein. Innerhalb dieser roten Gefahrenzone liegen der Süden der Großstadt Aschkelon und die gesamte Kleinstadt Sderot. Es gibt in der Zone kein Hotel, nur ein einziges Privatzimmer wird zu einem für Israel sensationellen Preis vermietet, dort steige ich ab. An der Grenze zum Gazastreifen leben besonders viele Menschen mit sowjetischem Migrationshintergrund. „Unser Haus Israel“ ist hier stark, die Parteizeitung liegt in Tante-Emma-Läden aus. Die meisten Russen sind arm und wählen gegen ihre sozialen Interessen: Gerade Parteichef Avigdor Lieberman trug sein Scherflein dazu bei, dass aus einem Staat, der in seinen Anfängen Züge einer sozialistischen Utopie hatte, ein turbokapitalistischer Hightech-Tiger wurde, in dem sich große Teile der Bevölkerung krumm buckeln, um die horrenden Kosten von Wohnen und Essen zu stemmen.
Lieberman, geboren in Moldawien, bewies sich in seiner Jugend als Türsteher und Schläger im rechtsextremen Milieu, war dann 1993 bis 1996 Generalsekretär der Likud-Partei und Netanjahus Büroleiter bei dessen erstem Regierungsantritt 1996. Seinerzeit trieb Lieberman mit seiner postsowjetischen Allergie gegen alles Sozialistische Netanjahus umfassende Privatisierungspolitik voran.
„Unser Haus Israel“ konnte nie alle Stimmen der 1,2 Millionen Israelis sowjetischer Herkunft abholen, das Maximum waren 15 von 120 Knesset-Sitzen im Jahr 2009. Danach ging es steil bergab, zuletzt aber wieder etwas bergauf, auf acht Mandate. Seine fruchtlose Sozialpolitik wird Lieberman immer wieder verziehen, da er gegenüber den Palästinensern prinzipiell Härte zeigt. Oft gab er dafür Ministerämter auf, 2004 wegen Israels Abzug aus Gaza, 2018 aus Protest gegen eine Waffenruhe mit der Hamas. Viele Russen in der Grenzregion schätzen ihn dafür.
System „Eisenkuppel“
Ich fahre nach Aschkelon, 141.000 Einwohner. Die Stadt ist sichtlich zweigeteilt: Außerhalb des Zehn-Kilometer-Kassam-Radius liegen schicke mediterrane Viertel wie Marina und Barnea, wo sich wohlhabende jüdische Franzosen niedergelassen haben. Im armen Süden liegt Schimschon, benannt nach dem biblischen Kraftprotz Samson. Mein erster Gedanke beim Anblick von Schimschon: Nebenan in Gaza sieht es wohl nicht viel besser aus.
Das Straßenbild wird geprägt von Familien äthiopischer Juden, die das Oberrabbinat erst vor Kurzem, Jahrzehnte nach ihrer abenteuerlichen Evakuierung, als vollgültige Juden anerkannt hat. Dazu kommen Russen, die sich an der Bushalte mit Büchsenbier betrinken oder die Treppenhäuser mit garstigem Ehestreit beschallen. Das Nachtleben beschränkt sich auf eine Zeltbar zum Fußballschauen, die furchtbar teuren Wodka ausschenkt; die vorwiegend russischen Gäste trinken Kaffee und Bier.
Der Vermieter meines Zimmers ist ein russischer Rentner aus Riga. Über vier Fünftel der israelischen Rentner unter der Armutsgrenze sind postsowjetisch. Den Sommer verbringe er in Riga, erzählt Michail, von wo aus er einst weite Reisen unternahm. Auf das Innere der Toilettentür sind die Fahnen von 67 Ländern geklebt, „hier war Mischa“. Den Rest des Jahres verbringt er in dem abgewohnten Domizil in Aschkelon-Süd. Der 73-Jährige geht jeden Morgen im Dunkeln los, um in einem anderen Viertel Straßen zu fegen, dafür zahlt ihm die Kommune umgerechnet 700 Euro. Seine Frau, die noch keine Rente bezieht, verlässt noch vor ihm das Haus, um am Fließband Apfelsinen zu sortieren. Michail tut so, als würde er das alles nicht tragisch nehmen: Das Straßefegen „hält mich fit“, die Arbeit seiner Frau sei „gar nicht hart“ und bringe Gratis-Apfelsinen ein, und vom Gästezimmer in seinem für israelische Verhältnisse historischen Wohnblock sei sogar ein bisschen Meer zu sehen. Das Abwehrsystem „Eisenkuppel“ hat die Sicherheit stark verbessert, Todesopfer sind sehr selten geworden, nur dass man im Fall eines Raketenalarms bloß 25 Sekunden zum Rennen hat. „Michail, wie weit ist es zum Gazastreifen?“ – „Etwa sechs Kilometer.“ – „Und wohin soll ich bei Raketenalarm rennen?“ – „Ins Treppenhaus runter, hier im vierten Stock bist du ungeschützt. Wenn du draußen bist, gleich in den nächsten Hauseingang.“ Den von den Sirenen ausgelösten Stress dürfe man nicht an sich herankommen lassen: „Wenn sie dich zum Galgen führen, brauchst du das Ersaufen nicht zu fürchten.“
Ich fahre nach Sderot, 27.000 Einwohner. Die dem Gazastreifen nächstgelegene israelische Stadt ist zugleich eine der russischsten, annähernd die Hälfte spricht russisch, im Stadtparlament fünf von 15 Abgeordneten. Sderot wurde 1951 auf dem Gebiet eines palästinensischen Dorfs gegründet, dessen Bewohner man vertrieben hatte. Bürgermeister Sderots war einst Amir Peretz, heute Chef der zur Bobo-Sekte geschrumpften Arbeiterpartei. In Sderot regiert nun ein Likud-Bürgermeister mit einem Vize von „Unser Haus Israel“.
Es bleiben 15 Sekunden bis zum nächsten Bunker. Die meisten der 8.600 Kassam-Raketen, die zwischen 2001 und 2009 auf Israel gefeuert wurden, gingen in Sderot nieder und töteten 13 Menschen. Ich will Sderot sehen, weil die meisten der hiesigen Russen kaukasische „Bergjuden“ sind. Ich komme an einem verregneten Sonntag, und wenn mir nicht gerade hebräische Aufschriften ins Blickfeld treten, fühle ich mich tatsächlich an Kleinstädte im Kaukasus erinnert, allein wegen der robusten Art, mit der die Männer herumstehen.
Kurz darauf sitze ich im Rathaus der Sderoter Führung von „Unser Haus Israel“ gegenüber. Alle sind sie im Kaukasus geboren: Mark Iwraimow, sechs Jahre lang Vizebürgermeister, seit der Septemberwahl Abgeordneter der Knesset; Chawa Nachschonow, die neue Vizebürgermeisterin, und Viktor Abramow, Parteikoordinator. Letzterer sagt lange nichts, bis er die Schulter entblößt und mir einen der „16 bis 17“ Raketenteile in seinem Körper zeigt: „Das habe ich 2007 abgekriegt, an der Tankstelle. Aber danach habe ich vier Kinder gezeugt!“
Einfach schießen
Abgeordneter Iwraimow formuliert in einem sanft melodiösen Russisch die Haltung gegenüber Gaza: „Anstatt zu schießen und zu töten“, seine rechte Hand formt einen Abzug, die linke ballt sich zur Faust, „schützen wir uns vor den Terroristen. Mit dem Sandhaufen, den wir vor einem Jahr aufgeschüttet haben, verstecken wir uns vor ihnen.“ Netanjahu, einmal „ein starker Leader“, sei heute ein „Fake-Rechter“, der im Geheimen mit der Hamas verhandele und „keinen Krieg will“. Avigdor Liebermans Linie im Jahr 2018, beim „Marsch der Rückkehr“ jeden Gaza-Demonstranten am Grenzzaun zu töten, fand Iwraimow richtig: „Unsere Ansage ist einfach – schießt!“ Wie Europa, so habe aber auch „Israel Angst, inhuman auszusehen“.
Die Vizebürgermeisterin fügt mit Grabesstimme hinzu: „Euer Europa braucht einen Arzt.“ Sie lacht über Journalisten, die „aus Gaza berichten, in Wahrheit aber alles von einem Aussichtspunkt in Sderot drehen“. Sie zeigt ein Video aus Gaza, in dem maskierte Männer zu muslimischem Gesang niedliche Luftballons und einen rosa Spielzeugflieger steigen lassen, mit Sprengstoff gefüllt: „Vorgestern sind wieder zwei Stück angekommen. Sie schicken die Luftballons am Morgen, wenn die Kinder zur Schule gehen. Gott sei Dank wollte noch kein Kind einen fangen. Aber die Mohnfelder außerhalb von Sderot, die sind deswegen großteils abgebrannt.“ Ich frage sie, ob sie je im Gazastreifen waren. Natürlich nicht. Zwischendurch stößt eine attraktive Odessitin wegen eines Entertainmentabends hinzu. Auch die berühmteste Bergjüdin trat schon in Sderot auf, „Jasmin“, die Gattin des berüchtigten moldawisch-israelischen Politoligarchen Ilan Shor. Iwraimow erklärt mir weiter das Wahlprogramm: „Wir sind nicht Iran oder Saudi-Arabien, wir sind ein gewöhnlicher säkularer Staat.“ Das zielt auf die Orthodoxen, die Absolventen religiöser Schulen, die auf dem Arbeitsmarkt unvermittelbar und eine „Last für uns alle sind“. Es zielt ebenso auf die von Orthodoxen durchgesetzten Sabbatverbote. „In Aschdod konnte man früher am Sabbat noch zum Strand, bis sie den zu schließen begannen.“ Ich begreife, dass die Sozialpolitik der Partei weniger darin besteht, den säkularen Russen etwas zu geben, als den Mitbürgern mit den Schläfenlocken etwas zu nehmen. Hält „Unser Haus Israel“ die acht Mandate, bleibt Iwraimow in der Knesset.
Gepanzerter Bahnhof
Ich frage ihn arglos, wo ich ein kaukasisches Restaurant finde, und bekomme zunächst eine Rundfahrt in Iwraimows Knesset-Dienstwagen, einem weißen Mazda. „In fünf Jahren sind 5.000 staatlich geförderte Wohnungen gebaut worden,“ prahlt er, „wir haben hier andere Standards als in Zentralisrael, die Wohnungen sind größer, bei uns ist alles größer.“ Eine Vierzimmerwohnung kostet eine Viertelmillion Euro, das ist in Israel billig. In der Industriezone – hinter dem Werk des IT-Weltkonzerns Amdocs und hinter dem Spielplatz des „Jewish National Fund“, wo sich um ein Weichgummi-Karussell Schutzräume gruppieren, genutzt als Computerraum – führt mich Iwraimow in einen leeren Bankettsaal. Dort tragen die Köchinnen kaukasische Kopftücher, einer der Tische bricht unter Speisen fast zusammen. Das ist alles für mich. „Tschudu“, mit grüner Zwiebel gefülltes Fladenbrot, dazu „Kurse“, mit Faschiertem gefüllte Tortellini, Kofta-Knödel, ein Plow-Reisgericht, russische Tschebureki-Teigtaschen, eine köstlich bittere Pflaumensauce und sieben weitere Teller, die anzurühren mir die Kraft fehlt.
Zum Abschluss meines kaukasischen Abends will ich noch durch Sderot spazieren, doch der Abgeordnete findet es besser, wenn ich Sderot mit dem „sichersten Zug der Welt“ verlasse. Er zeigt mir den gigantischen Aufwand, der in Sderot für Sicherheit betrieben wird: solarbetriebene Bunker an jeder Bushaltestelle, „die öffnen sich bei Alarm automatisch, vorher verwechselten das manche mit einem Klo“, an Wohnblöcke angebaute Schutztrakte und an Wohnhäuser angebaute Bunkerwürfel. So bekam jeder Sderoter Haushalt auf Staatskosten ein Zimmer mehr. Iwraimows zwölfjährige Tochter ruft an, von ihrem wöchentlichen Mathe-Hochbegabten-Kurs aus Beerschewa zurückkommend; er spricht mit ihr Russisch, das er wegen „seines Reichtums und seiner zivilisatorischen Rolle“ liebt. Ich warte im gepanzerten Bahnhof auf den Zug nach Aschkelon. Neben mir ruht sich eine alte Buchara-Jüdin aus, „ich bin aus Usbekistan“. Dann geht sie in den Winterregen hinaus.
Am nächsten Morgen geht Michail um sechs zum Straßefegen, und ich durchreise das russische Siedlungsband am Gazastreifen mit dem Zug. Vor Sderot, wo sich die neue Bahnlinie der Grenze auf anderthalb Kilometer nähert, verschwindet der Zug zwischen massiven Stahlbetonwänden und grünen Schutzwällen. Lange nach Sderot öffnet sich der Blick. Ich sehe die begrünte Wüste und dahinter plötzlich einen kompakten Streifen von grauen Wohnblöcken, den ein staubig-gelber Sonnenstrahl erhellt. Ich sehe den Gazastreifen.
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