Dieses Land hat man sich als hocheffizient verwalteten Staat vorgestellt, aber seit der „Kinderzuschlagsaffäre“ ist das anders: Etwa 26.000 Familien wurden ungerecht des schweren Sozialbetrugs beschuldigt, das Finanzamt zwang sie zum Zurückzahlen aller Kinderzuschläge. Da es sieben Jahre dauerte, bis das Systemversagen bekannt wurde, verbrachten die Betroffenen sieben Jahre in Scham und Schulden. Sie waren als Sozialbetrüger gebrandmarkt. Oft glaubten ihnen die engsten Angehörigen nicht. Die Regierung trat im Januar wegen der Affäre zurück – zwei Monate vor der Wahl war das rein symbolisch – und versprach eine Entschädigung von pauschal 30.000 Euro. Die Wahl am 17. März ging komischerweise so aus, als wäre nie etwas gewesen: Die rechtsliberale VVD von Premier Rutte gewann sogar leicht dazu, ihre wohlhabende Wählerschaft war nicht betroffen.
Ich besuchte eines der Opfer in Limburg. Mariska Schols, Mutter von fünf Kindern, führt in ihrem Viertel „De Kaaserij“, ein kleines Käsegeschäft. Ich fragte sie nach dem Rechtspopulisten Geert Wilders, der in Limburg seine stärksten Bastionen hat: „Ging der behördliche Kampf gegen Sozialbetrug nicht auch auf ihn zurück?“ Schols antwortete kategorisch: „Das ist nicht die Schuld von Wilders.“ Sie erklärte das Wahlergebnis so: „Die Leute, die viel Geld haben, wollen Mark Rutte.“ Wählen geht sie nicht mehr. „Es wird doch sowieso immer für Rutte gestimmt.“
Schols hatte eine Hand verbunden, so durfte sie keinen Käse verkaufen. Denn: „Das Hygiene-Amt ist kein Spaß, das Finanzamt ist kein Spaß, die Kommune ist kein Spaß.“ Die Niederlande seien, auch wenn das im Ausland keiner glaubt, ein „zutiefst bürokratisches Land“. Deswegen gebe es kaum Limburger Käse, jeder Käse „muss seinen Käsestempel haben“ und werde von einem ganzen „Rechtsgebäude“ geschützt. Die Bürokratie handle nach der Devise: „Es ist immer der Bürger schuld.“
Sie erzählte mir ihre Geschichte. Der „Kinderopvangtoeslag“ ist ein Zuschlag, der ärmeren Eltern einen Großteil der Betreuungskosten in Kitas und Schulen ersetzt. „Holland ist teuer“, so Schols, „eine Stunde Kita kostet bis zu 7,90 Euro.“ 2012 bekam sie einen Brief vom Finanzamt. Darin stand, dass sie den Kinderzuschlag 2008 bis 2010 zu Unrecht bezogen hätte, sie müsse daher 22.000 Euro zurückzahlen. Worin das Unrecht bestand, war nicht vermerkt. Den Grund erfuhr sie erst am Telefon – sie habe gar keine Kinder. Sie hatte aber zwei. Am 26. Oktober 2012 trug sie einen Stapel Beweise aufs Finanzamt Heerlen, von dort ging das nach Breda, von dort nach Apeldoorn. Aus einem Behördenbrief von 2017 ging indirekt hervor, dass der Großteil der Unterlagen verloren gegangen war. Ich rief aus: „Das ist ja wie bei Kafka!“ Kafka sagte ihr nichts, die niederländischen Finanzbeamten beschrieb sie aber als „immer ganz hart“. Sie zahlte die 22.000 Euro nicht, bekam nichts mehr vom Staat, das nach der Lohnpfändung verbliebene Einkommen war niedriger als ihre Miete. Sie blieb die Miete schuldig. Damals starb ihr Vater, ihre Mutter reichte das Erbe zum Begleichen der Mietschuld weiter.
Eine ältere Dame trat ein und fragte, ob es hier „een lekkere kaas“ gibt. Schols erklärte ihr meine Anwesenheit damit, dass ich mich „für niederländischen Käse“ interessiere, zog sich schwarze Handschuhe über und bediente. Ihr Umsatz fiel während Corona „um 20 Prozent, die Leute wissen oft gar nicht, was offen hat“.
Dann erzählte sie weiter. 2014 hatten sich die Schulden auf 60.000 Euro summiert. Um leben zu können, gingen sie und ihr Mann illegal putzen. Ihr Lohn wurde bis 2019 gepfändet, staatliche Leistungen bekam sie erst ab 2020 wieder. Sollte sie die Entschädigung kriegen, wird Mariska Schols die Restschulden los. Ihr Familienleben ist aber geschädigt. Auf ihren Mann deutend, sagte sie: „Seine Mutter glaubt uns nicht, seine Schwester glaubt uns nicht, mein Bruder glaubt uns nicht.“ Ihr Bruder war ihr erst wegen des „Sozialbetrugs“ böse, dann weil sie in den Medien war.
Letzte Frage, warum hat sie eigentlich so viele Kinder? Die Antwort war wieder: Holland ist teuer. Die Spirale koste 600 Euro, Sterilisierung 2.000, sieben Jahre vom Finanzamt gepfändet, hatte sie „für Verhütung einfach kein Geld“. So kamen wegen der Kinderzuschlagsaffäre drei Kinder dazu.
Kommentare 8
»Verschwundene« Belege ist bei Behörden ein Klassiker; das kann auch in D schnell in kafkaeske Bereiche mutieren. Günter Wallraff etwa deckte im Rahmen einer Doku-Reihe bei RTL bereits vor Jahren auf, dass bei den Jobcentern Akten mitunter geschreddert würden – ähnlich wie die NSU-Akten anno 2011 bei den Verfassungsschutzämtern.
Zu der Fallserie in den NL – es scheint hier ja um ein großangelegtes Vorgehen zu gehen – fehlt mir zur Gesamt-Einsortierung etwas die Informationsgrundlage. Speziell auch aus dem Grund, weil Behördenwillkür zwar überall ein systemisches Problem ist, ab einer bestimmten Größenordnung – die hier anscheinend in sogar extremer Weise überstiegen wurde – in den Modus Skandal übergeht.
Fazit: Beruhigend ist das alles natürlich nicht. Nicht auszuschließen ist so leider wohl, dass selbst das staatliche »Kerngeschäft« in den entwickelten Ländern langsam von der verdeckt-punktuellen in den Modus flächendeckend-außergesetzlicher Willkür übergeht. Normalerweise – das steht auch so in den sozialwissenschaftlichen Büchern, die es immerhin noch frei im Handel gibt – nennt man derartige Zustände Despotie. Fängt zwar ebenfalls mit »D« an – hat mit »Demokratie« im eigentlichen Wortsinn jedoch nichts zu tun.
die deutsche job-center-despotie aka schwarze pädagogik (an erwachsenen!) geht in ganz ähnliche richtungen. wohnungslose werden fertig gemacht, depressive werden fertig gemacht, usw.
auch ich selbst habe vor 15jahren einmal 6 monate h4 bezogen, zum glück weder wohnungslos noch depressiv. aufgrund eines untermieters, der ca. 50% der miete zahlte, wurde mir vorgerechnet, dass ich doch gar keine mietkosten hätte. darüber hinaus habe ich meine geringen zuverdienste gemeldet.
ergebnis: das erste h4-geld floss einen monat nach ende des bezugs, also 7 monate nach anfang des bezugs. war für mich kein problem, konnte die lücke mit rücklagen füllen. geholfen hat mir eine h4-beratungsstelle, ohne die ich nicht so recht gewusst hätte, wie richtig und angemessen reagieren.
wenn ich mir jetzt vorstelle, dass jemand (unterprivilegiertes) ohne rücklagen in dieses system gerät, da ist die wohnung ganz schnell weg. und die depression ganz schnell da.
Die Unschuldsvermutung war halt völlig verschuwnden. Etwa 26.000 Betroffene, die Kosten für den ganzen Skandal liegen bislang wohl bei etwa 600 Mio. Euro (Entschädigungen, Folgekosten, Verwaltungsaufwand, Rechtskosten etc.). Und auch niederl. Gerichte bis hin zum niederl. Verfassungsgericht haben noch lange diese Praxis des Verdächtigens (etwas stimmt nicht > alles zurückzahlen) aufrechterhalten. Irgendwann wurde aber klar, dass Amtsfehler und Flüchtigkeitsfehler und Fehlinterpretationen und ein viel zu undifferenziertes Gesetz und eine kurzsichtige Rechtsauslegung usw. zu immer mehr schwerwiegenden Folgen für Leute führen, die nichts falschgemacht haben. Da sind Leute drunter, die echt alles verloren haben, Beziehungskrisen, Scheidungen, Hausverkauf oder Pfändung usw., weil die Rückzahlungsforderungen sehr hoch waren. Dann endlose Untersuchungen, dann gegenseitige Schuldzuweisungen, paar unbedeutend Rücktritte (Bauerneropfer), dann Vertröstungen, dann das mea culpa bei Richtern, dann doch noch Rücktritt der Rutte-Regierung. Die - und das ist mindestens so absurd - ein paar Wochen später die Neuwahlen wieder gut hinter sich brachte. Was nur den Schluss zulässt, das das moralisch-politische Bildungsniveau arg gering und/oder der Egoismus einer großen Wählergruppe arg groß ist.
Danke für die Infos. Werde mir netzseitig zu der Chose wohl noch ein paar Medienberichte reinziehen, damit ich Background / Umfang und so weiter vollständig auf dem Radar habe.
Ich frage mich gerade, ob es beruhigend ist, dass solche Grotesken auch außerhalb Deutschlands stattfinden können. Für die Betroffenen wohl eher nicht.
Globalisierung scheint sich mittlerweile auf allen Seinsebenen auszubreiten. Die Schwierigkeit, Ursache und Wirkung auseinanderhalten zu können, scheint da mittlerweile zum Standardprogramm zu gehören.
Schlimm.
Niemand ist unfehlbar. Das gilt in einer Demokratie auch für die von der Allgemeinheit alimentierten "Staatsdiener" aka Beamte. Wenn Staatsdiener Fehler machen, sollten sie allerdings die Eier in der Hose und das Rückgrat haben, diese Fehler ohne schuldhaftes Verzögern zuzugeben.
Sonst drängt sich nämlich unweigerlich der Verdacht auf, diese Fehler waren gar keine "Fehler", die falschen Berechnungen wurden mit voller Absicht und in Kenntnis der Fehlerhaftigkeit gemacht.
Unverständlich ist allerdings die Reaktion vieler Betroffener, nicht mehr wählen zu gehen. Ein Kreuz bei einer oppositionellen Partei macht noch keine Revolution. Aber wer nicht wählt, unterstützt indirekt immer die herrschende Nomenklatura.
„…, unterstützt indirekt immer die herrschende Nomenklatura.“
Die wird allerdings auch durch die Tatsache bedient, dass man in den Niederlanden zwischen 35 Parteien wählen konnte und kann.
Mark Rutte ist eben – ähnlich der Angela Merkel – eine sakrosankte Devotionalie.
Wer Sozialleistungen bezieht, ist immer ein Betrüger, wenn Konzerne allerdings Staatshilfen beziehen, ist es eine ehrenwerte Institution.