Fünf Jahre nachdem 61 Prozent der Griechen in einem dramatischen Referendum OXI (Nein) zur Austeritätspolitik von EU-Kommission, EZB und IWF sagten, wieder ein Sommertag in Athen. Der Wind hat sich gedreht, die EU-Kommission will plötzlich geliehenes Geld verschenken, Griechenland bekäme aus dem Corona-Wiederaufbaufonds 32 Milliarden, heißt es. Athen erscheint mir rebellisch und vornehm wie stets. Das zentrale Viertel Exarchia, bewohnt von Anarchisten und Migranten, ist nachts mit Dreck übersät, nur der Straßenverkauf von Hardcore-Transen-Pornos ist verschwunden. In der Tram zum Meer spritzt mich eine feine Dame beim Desinfizieren ihrer Hände an und entschuldigt sich wortreich. Mich stört’s nicht; ein Tropfen Desinfektion von einer sc
schönen Frau, das ist die Erotik unserer Zeit. Im Juli 2015 dauerte es nur Tage, und Premier Alexis Tsipras fügte sich den Kreditgebern doch. Aus dem Nein der Griechen wurde ein Ja von Tsipras. Seine Regierung sollte bald schon das Soll an Primärüberschüssen übererfüllen.Ich kontaktiere meinen Bekannten Dimitri Papadimitriou, unter Tsipras bis 2018 Wirtschaftsminister. Der erklärte mir einst die Geldströme der „Griechenland-Rettungen“ als Kreislauf zwischen EZB und EZB, mit wenigen Durchgangsstationen und ohne nennenswerten Eingang in den griechischen Staatsetat. Nun schreibt er: „In der Tat sind die Dinge jetzt anders, Covid-19 hat eine signifikante Rolle gespielt.“ Über 2015 sagt er: „Ich bin ein wenig bitter wegen der sehr schwierigen, oft erbitterten Verhandlungen damals und wegen der Unnachgiebigkeit des europäischen Nordens und des IWF.“Ich gehe zum Solidarity Center am Larissa-Bahnhof, zur Essensausgabe an die Armen, zwei blaue Plastiktüten pro Person. Der Türsteher schreit die stumm wartenden Einheimischen an, eine Gruppe junger Geflüchteter lässt er grummelnd ein. Inzwischen las ich das Schlüssel- und Schlüssellochwerk über die Griechenland-Rettung: Adults in the Room, geschrieben von Yanis Varoufakis, 2015 Finanzminister der Linksregierung. Ich halte Varoufakis für einen unorthodoxen, klugen Ökonomen, der das Husarenstück fertigbrachte, den nach seiner neoliberalen Schocktherapie für Jugoslawien und Russland geläuterten Jeffrey Sachs zu Brüsseler Verhandlungen anzuschleppen. Um Varoufakis herum scheint die wirtschaftliche Expertise heute dünner gesät zu sein, seiner Assistentin und deren halb dänischer Assistentin purzeln die Milliarden und Millionen nur so durcheinander: Bekäme Griechenland 32 Milliarden oder 32 Millionen? Sie wissen es nicht.Fotini Bakadima, geboren 1981, seit Juli 2019 Abgeordnete der Varoufakis-Partei ΜeRΑ25, empfängt mich in einem Straßencafé. Die Athenerin studierte Internationale Beziehungen in Brüssel sowie Geschichte und Musikwissenschaft in Athen.„Es gibt kein Gratisgeld“Seit Varoufakis’ Antritt im Finanzministerium war sie seine „rechte Hand“. Sie begleitet Varoufakis auch in Costa-Gavras’ neuem Spielfilm Adults in the Room, „die Figur ist ganz wie ich, auch in ihrem Aussehen“. Bakadima stand am 3. Juli 2015 in der „energetisierten“ OXI-Masse auf dem Syntagma-Platz. „Ich verstand an diesem Punkt, dass Alexis nachgeben würde. Er sprach nur fünf Minuten und ging weg. Es gefiel ihm nicht, was er sah.“ – „Hatte Varoufakis dieses Gefühl auch?“ – „Nein. Er glaubte, Alexis würde Wort halten.“ Bakadima kam gegen Mitternacht nach Hause. Am Morgen rief Varoufakis an, er war zurückgetreten. Warum wurde Tsipras im September 2015 wiedergewählt? „Es gab keine Alternative, jedenfalls nicht für am Euro festhaltende OXI-Wähler, aber die Wahlenthaltung war enorm.“ Ich frage, warum der weltberühmte Varoufakis als Politiker nicht erfolgreicher ist: kein Sitz im EU-Parlament, nur 3,5 Prozent in Griechenland. „Schwer für neue Parteien“, hebt sie an, „Vertrauen in Politik ist geschwunden, obwohl die Leute nicht mehr glauben, dass Varoufakis die Banken schließt und Babys zum Frühstück isst.“ Kann es damit zusammenhängen, dass MeRA25 nicht populistisch ist? Ihre humanitäre Kritik an der harten Migrationspolitik der jetzigen Rechtsregierung bestätigt das: „Um etwas Geld zu bekommen, enden wir als Gefängniswärter von Europa.“ Ihre Wähler beschreibt Bakadima als jung, „18 bis 30, wir sind keine Eliten-Partei“.Letzte Frage: Was sagt sie dazu, dass es jetzt EU-Gratisgeld für alle gibt? „Das muss zurückgezahlt werden. Im Kommuniqué der Eurogruppe ist festgelegt, dass Griechenland 2021 einen Primärüberschuss liefern muss – das war ursprünglich nicht vorgesehen. Nein“, sagt die pro-europäische OXI-Aktivistin fünf Jahre danach, „viel hat sich nicht geändert, Gratisgeld gibt es nicht.“