Sodom, Babel - Chvalovice

Globales Dorf in Tschechien Ein Grenzort wird mehrheitlich von vietnamesischen Händlern sowie russischen und ukrainischen Prostituierten bewohnt

Die Kirche von Chvalovice ist bei Tag und Nacht verriegelt. Für Vera sperrt sie der Messner kurz auf. "Hier habe ich meine Kinder taufen lassen, und mein Sohn hat hier geheiratet", erzählt die Rentnerin. "Damals war die Kirche nicht so schön wie jetzt, aber die Kinder sind trotzdem alle weggezogen. Wenigstens kriegen meine Enkel die ganze Schweinerei nicht mit."

Verschämt lächelt der Kirchendiener, als Vera mit der Hand über die frisch gezimmerten Kirchenbänke streicht. Die barocke Kanzel ist detailversessen restauriert, Bilder und Statuen glänzen, renovierter kann eine Kirche nicht sein. "Die Etablissements zahlen ordentlich Steuern", merkt der Kirchendiener leise an, bevor er wieder abschließt. "Und die Vietnamesen spenden auch sehr viel."

Excalibur-City

Chvalovice ist ein globales Dorf im europäischen Durchzugsverkehr. Die stark befahrene E59 bläst unentwegt jene Klientel durch den Ort, auf die alle ortsansässigen Ethnien orientiert sind. Um akzeptiert zu werden, haben die buddhistischen Vietnamesen reichlich für die Renovierung der katholischen Kirche gespendet. Wenn hier aber jemand ein Gotteshaus braucht, sind es die orthodoxen Prostituierten aus Russland und der Ukraine.

Nach offizieller Zählung leben in Chvalovice 400 Menschen. Die Zahl umfasst gerade einmal die polizeilich gemeldeten Tschechen, die wahre Einwohnerzahl wird auf ein Mehrfaches geschätzt. Chvalovice liegt im Einzugsgebiet der pittoresken südmährischen Kleinstadt Znojmo. Drei Kilometer im Süden verläuft die österreichische Grenze.

Aus dem Niemandsland des Grenzstreifens ragt ein monströses Shopping-Center, die auf mittelalterliche Tafelrunden getrimmte Excalibur-City. Zur Unterhaltung der österreichischen Verbraucher führt Veras erwachsener Sohn Klement eine kleine Kapelle an, die in mittelalterlichen Kostümen zaubernd und musizierend durch die Restaurants zieht. "Er macht sich für die Österreicher zum Affen", glaubt Vera. "Aber er verdient ganz gut damit."

Innerhalb eines Menschenalters hat Chvalovice zweimal den Austausch seiner Bevölkerung erlebt. Bis 1945 war der Ort - Kallendorf genannt - ein reines Bauerndorf, besiedelt von deutschsprachigen Südmährern, die von Acker- und Weinbau lebten. Nach deren Aussiedlung wurde der Grund tschechischen Siedlern aus dem Landesinneren zugewiesen, darunter auch Veras Familie. Bis auf einige unabhängige Weinbauern sind seither fast alle Bauern in der Agrargenossenschaft organisiert. Vera und ihr Mann gingen zur Eisenbahn.

Auf dem riesigen Feld, das sich westlich des Ortes erstreckt, liegen inselförmig einige jener Bunker, mit denen sich die erste tschechoslowakische Republik seinerzeit einer Aggression des Dritten Reichs erwehren wollte. Da aber die letzte Demokratie Mitteleuropas 1938 mit dem Münchener Abkommen geopfert wurde, kamen die rundlichen Klötze niemals zum Einsatz. Die Gegend am Damischesbach blieb mit einer sanft gewundenen Kellerstraße ein beschaulicher Flecken Erde - die nächste Weinkost ist nie weit.

Die Gemeinde Chvalovice verfügt heute über unzählige Privathäuser, die unter der Hand als Pensionen für die postsowjetisch-asiatische Mehrheit des Dorfs geführt werden, und wirbt mit fünf offiziellen Bordellen, von denen drei die Ausmaße eines kleinen Schlosses haben.

Der Prostitution gehört die Nacht - den Vietnamesen der Tag. Deren über den ganzen Landstrich verzweigter Handel besticht zunächst als logistisches Phänomen. In der großen zugigen Halle des Dragon-Markets und in langen Reihen halboffener Straßenbuden handeln sie mit Markenimitaten, Gartenzwergen und Kleintierbedarf, daneben auch mit illegaler IT-Ware. Stets von der Polizei bedroht, können ihnen die regelmäßig wiederkehrenden Razzien nur kurzfristig etwas anhaben: Wie von unsichtbarer Hand herbeigeholt, wird kaum zwei Stunden nach Beschlagnahme schon der Nachschub feilgeboten.

Moulin Rouge

Die Vietnamesen stellen jene mittlere Generation, die unter den Tschechen von Chvalovice zusehends fehlt. Noch zu Zeiten der C?SSR ins Land gekommen, sind die meisten um die 45 und ihre Kinder Teenager, die tagaus, tagein im Verkauf stehen. Am frühen Abend verschwindet Vietnam - und kein Mensch lässt sich mehr auf der Straße blicken.

Nach Einbruch der Dunkelheit gehört die Szene den Autofahrern, die durch Chvalovice brausen, am Ortsausgang aber den Fuß vom Gas nehmen, um die Straßenmädchen zu perlustrieren, die vereinzelt im Dunkel der Nacht stehen. Wer sich gefunden hat, begibt sich nicht selten ins gewaltige Moulin Rouge, das mit einem Pfeffersteak für drei Euro wirbt. An der Fassade des mehrstöckigen Anwesens rotiert die ganze Nacht hindurch ein riesenhaftes rotes Mühlrad, leuchtet grellrot in die Weite des stillen Landstrichs hinaus. Vor der Tür parken Autos aus Wien und Niederösterreich, das Pfeffersteak wird barbusig serviert und mit Blick auf eine Live-Sex-Bühnenshow verzehrt.

Klava arbeitet im In Flagranti, einem anderen Großbordell. "Ich bleibe drei Wochen, verdiene 1.500 Euro, und dann bin ich nichts wie weg", ist die 28-jährige Weißrussin überzeugt. Sie habe wegen der kurzen Zeit auch keine Unterkunft bezogen, sondern bewohne eines der Zimmer in der oberen Etage des Bordells. Die "Touristinnen" aus der ehemaligen Sowjetunion stellen die Masse der Prostituierten. Da sie ohne Aufenthaltsrecht einer nicht legalen Tätigkeit nachgehen, ist ihre Lage doppelt prekär. Sie sind jederzeit erpressbar. Und doch gibt es in Chvalovice Frauen, die noch tiefer stehen: die Straßenmädchen von der E59.

Die Ethnien des globalen Dorfs - Tschechen, Vietnamesen, Russinnen, Roma - leben misstrauisch nebeneinander her, und auch die durchreisenden Freier müssen sich einer verästelten Hierarchie unterwerfen. Am Parkplatz vor dem In Flagranti stehen eines Nachts zwei frustrierte Männer, indische Computer-Spezialisten aus München. Sie sind jung und gut aussehend, tragen elegante Anzüge und sprechen ein gepflegtes Deutsch. Nach einem langen zermürbenden Abend beschließen die beiden, nach Österreich weiterzufahren. Die tschechischen Prostituierten mögen keine Roma - und haben allesamt abgelehnt, mit den Indern nach oben zu gehen.

"Für die Dorfbewohner sind wir einfach nur russische Huren, ich will ihnen nicht begegnen. Wenn ich aufgestanden bin, gehe ich nebenan essen, und wenn ich etwas brauche, gehe ich zur Tankstelle am Ortsrand." Klava verbringt ihre Nachmittage im Zimmer, tippt Kurznachrichten an ihre Tochter, liest Gedichte von Puschkin und Lermontow. Von dem Geld will sie sich zuhause in Witebsk eine Wohnung kaufen. Dass der Ort Chvalovice heißt - sie weiß es nicht.


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