Tausend träge Enten

Ostwind Kolumne

Seit 20 Jahren ist das Wasserkraftwerk Gabcíkovo mit seinem Stausee, seinem Zufluss- und Abflusskanal ein Zankapfel - zunächst noch zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn - seit fast anderthalb Jahrzehnten nun zwischen der slowakischen und der ungarischen Regierung. Was in Budapest besonders empört, die "schöne blaue Donau", einst die natürliche Grenze zwischen beiden Ländern, wurde nicht nur umgeleitet, sie hat in ihren Flusslandschaften unersetzliche Biotope verloren. Wer in der Gegend lebt, muss sich in ein abgeschiedenes Dasein fügen, hat Martin Leidenfrost erfahren, der niemanden traf, als er auf der Dammkrone des Gabcíkovo-Kanals entlang wanderte.

Wir Mitteleuropäer sind bescheiden. Hätten Chinesen den Gabcíkovo-Kanal gebaut, würden sie sämtliche Staatsgäste auf die Dammkrone schleppen und ihnen stolz erklären: "Wir haben Erdmassen von 150 Millionen Kubikmeter bewegt. Viel mehr, als für den Suezkanal ausgehoben wurde."

Wir sind aber keine Chinesen. Wenn wir Gabcíkovo hören, erinnern wir uns allenfalls dunkel. Da war doch was. Ein Kraftwerk, eine ökologische Schweinerei? Ein Konflikt? Wurde das überhaupt gebaut?

Es wurde. Gabcíkovo umfasst einen stattlichen Stausee im Süden Bratislavas, einen daran anschließenden Zuflusskanal, ein Kraftwerk, das elf Prozent des slowakischen Strombedarfs liefert, und einen Abflusskanal. Das klingt nicht weiter spektakulär. Die Dimension des Gabcíkovo-Kanals begreift man erst, wenn man ihn sieht: Hier wurde in Wirklichkeit ein Strom verlegt, auf 39 schnurgeraden Kilometern eine vollkommen neue Donau gebaut. Das Herzstück des verschämten Weltwunders, der Zuleitungskanal, ist mehr herausgewühlt als hineingegraben. Der Uferdamm ragt aus der flachen Landschaft heraus, haushoch, gleichmäßig und linear. Der abgeleitete Fluss ist wie eine Wanne in die Auenlandschaft gesetzt.

Innen ist die Wanne asphaltiert, ihr äußerer Abhang begrünt, auf der Dammkrone verläuft ein Asphaltweg. Auf ihm bin ich neulich gewandert, etwa zehn Kilometer lang, ein Teilstück nur, bis zum Kraftwerk. Es war ein winterlicher Samstag, zwei ruhige Stunden zur Mittagszeit, kein Mensch ist mir begegnet. Empfehlen würde ich die Strecke nicht. Es warnen Verbotsschilder vor dem Betreten der Dammkrone, außerdem lässt sich zum Spazieren kein eintönigeres Ambiente denken.

Tausendschaften träger weißbäuchiger Enten ließen sich im stillen Wasser treiben. Ein einziges Frachtschiff fuhr flussaufwärts vorbei. Nachdem es passiert war, folgte am Rand der Asphaltrinne ein kurzes, längliches Schnalzen, das ich kein Wellenschlagen nennen will. Am anderen Ufer lag Baka, eines der Dörfer, die unmittelbar zu Füßen der künstlichen Donau zu liegen kamen. Ich sah von Baka nur die silbrig glänzende Kugel des Wasserturms und die Spitze des Kirchturms.

Am Kraftwerk luden zwei Rastplätze für die Öffentlichkeit zum Verweilen, alle Sitzbänke, Tische und Mistkübel in einem hellen Rosa gehalten, mittlerweile leicht abgeschmuddelt. Der Autoverkehr floss rege, aber keiner nahm Platz. In der Sonne sah das gestaute Gewässer für einen Moment einer Art von Donau ähnlich. Wenn schon nicht schön, so doch ein wenig blau.

Der Streit über das Kraftwerk ist bis heute nicht geschlichtet. Das Projekt geht auf einen Vertrag aus dem Jahr 1977 zurück, geschlossen zwischen den damaligen Bruderstaaten Ungarn und Tschechoslowakei. Doch Nagymaros, der ungarische Teil des kombinierten Staustufen-Plans, wurde 1989 aufgegeben, ein Erfolg des "Donaukreises", von Umweltschützern und Dissidenten - allerdings hatte der Ausstieg noch einen anderen Grund: Lange schon war den Gulaschkommunisten das Geld ausgegangen. 1989 waren von Nagymaros erst zehn Prozent fertiggestellt, aber bereits 90 Prozent von Gabcíkovo.

Nach Ungarns Alleingang setzte die Tschechoslowakei "Projekt C" um, eine abgeänderte Variante, die allein auf slowakischem Territorium verlief. Am 24. Oktober 1992 wurde der Gabcíkovo-Kanal geflutet. Zwar bildete die ursprüngliche Donau nach wie vor die ungarisch-slowakische Grenze, doch erhielt der Altarm nur noch geringe Wassermengen, in den Anfangszeiten lediglich 20 Prozent. Seither sagen die Ungarn, dass ihnen die Slowaken das Wasser stehlen.

1997 entschied das Internationale Schiedsgericht in Den Haag: Beide Seiten hätten Recht verletzt, beide Staaten mögen sich gegenseitig entschädigen. 2007 verhandeln die Regierungen immer noch - das Kraftwerk ist mittlerweile an den italienischen Energiekonzern Enel verkauft. Der Konflikt wird durch den Umstand aufgeladen, dass an beiden Ufern beinahe ausschließlich ethnische Ungarn leben, an der alten wie der neuen Donau, auf ungarischem wie slowakischem Gebiet.

Auch die Insel ist ungarisch besiedelt. Jene Donauinsel der anderen Art, das schmale Eiland, das im wuchtigen Schatten des Gabcíkovo-Kanals entstand. Die Insel ist 30 Kilometer lang und wird im Süden von der alten Donau begrenzt, von der ungarischen Grenze, über die kein Übergang führt. Mit dem Rest der Slowakei sind die Insulaner über die Staudämme von Cunovo und Gabcíkovo verbunden. Wer auf den Bus angewiesen ist, hat am Wochenende wenig Wahl: Der eine Bus fährt am Morgen, der andere am Abend.

Drei kleine Dörfer liegen auf der Insel. Ich habe Bodíky/Nagybodak besucht, genau in der Inselmitte, und wollte hören, wie es sich im Windschatten des Weltwunders lebt. Ich kam am Morgen an und sah einige Alte, auf dem Fahrrad oder zu Fuß. Auf den Weiden der ehemaligen Kolchose, die jetzt Agro Group heißt, standen Pferde und Schafe; fette Kühe lagen in der Wiese. Andere Arbeitgeber habe ich nicht ausgemacht.

Um halb neun spähte ich durch die Glastür des Gasthauses, das noch geschlossen hatte. Die Putzfrau war am Wischen, und die beiden Kellnerinnen mühten sich mit der täglichen Inventur. Sie ließen mich hinein und verkauften mir einen Kaffee.

Die Schwarzhaarige mochte 60 sein, die Blonde 45, und während sie die Spirituosen der Bar durch Trichter gossen, erzählten sie mir von der Geburt ihrer Insel. In den Siebzigern seien sie noch nach Horny Bar gegangen, ins drei Kilometer entfernte Nachbardorf, wo immer schon etwas mehr los war.

Als die Kellnerinnen zurück aus dem Keller kamen, hatten sie sich darauf geeinigt, woher der Fremde kommt, der sich mit dem Slowakischen ebenso plagt wie sie. Ich sei bestimmt aus Jugoslawien, meinte die Ältere, denn ich erinnere sie "an einen schrecklich intelligenten Jugoslawen aus der Slovnaft-Raffinerie". Die Blonde schoss nach: "Pole? Ukrainer?"

Ich wollte noch mehr von ihnen hören, von der Abwanderung der Eingesessenen, vom Zuzug ruhebedürftiger Großstädter, doch dann stimmte nach langem Rechnen der Tagesumsatz nicht. Sie fluchten, addierten noch einmal alles, schenkten sich zum Trost Fernet ein und gossen ihn mit Wasser auf: "Auch die Ungarinnen können saufen." Schließlich wurde das ungarische Fernsehen angestellt. Und als ich kein Wort mehr verstand, zahlte ich. "24 Kronen", sagte die Schwarzhaarige. Ich riss die Augen auf: 70 Cent für einen Kaffee und zwei Tee? - "Ja, billig", sagte sie mit einem wissenden Lächeln, "wir haben es billig hier."


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