Toulouse: Soziale Projekte sollen die Erinnerung an den Attentäter Mohammed Merah tilgen

Lokaltermin Sozialprojekte überzeugen in der „Zone Urbaine Sen­sib­le“ der 500.000-Einwohner-Stadt – von neuen Schulen bis zu Wohnbauten mit großzügigen Bal­ko­nen. Doch sehen deshalb nicht alle Bewohner ein islamistisches Verbrechen als Schandtat
Ausgabe 07/2023
Metrostation in Les Izards in Touluese
Metrostation in Les Izards in Touluese

Foto: Lionel Bonaventure/AFP/Getty Images

Es waren sieben Morde, die der Fahrer eines schwarzen Motorrollers mit verdunkeltem Helmvisier im März 2012 beging. Sie waren weder der Anfang noch das Ende des islamistischen Terrors in Frankreich. Bedeutend waren sie insofern, als damals französische Juden zur Zielscheibe wurden. Der 23-jährige Toulouser „Mudschahed“ Mohammed Merah packte eine achtjährige Jüdin an ihrem Pferdeschwanz, richtete eine Pistole auf sie, die er wegen Ladehemmung austauschen musste, und schoss dem Mädchen in die Schläfe.

Merahs erstes Opfer war Imad Ibn-Ziaten, ein 30-jähriger Fallschirmjäger der französischen Armee. Imads Mutter Latifa, die 1977 von Marokko nach Frankreich gezogen war, suchte nach einer Erklärung. Sie fuhr in das Toulouser Maghrebinerviertel, in dem der Mörder ihres Sohnes aufgewachsen war – nach Les Izards und sprach dort Jugendliche an. Die feierten Mohammed Merah als „Helden“ und „Märtyrer des Islam“. Als ihnen die gläubige Muslima sagte, dass Merah ihren Sohn abgeknallt hatte, entschuldigten sie sich. Latifa gründete daraufhin den interreligiösen Verein „IMAD für Jugend und Frieden“. Sie wurde hochgeehrt und zur Ritterin der französischen Ehrenlegion ernannt.

Feindselig schweigend

Mehr als zehn Jahre später wollte ich Les Izards sehen. Das Viertel, in dem gut 4.000 der fast 500.000 Toulouser leben, trug seit 1996 das Problemsiegel „Zone Urbaine Sensible“. Seit 2012 wurde es mit Geld überschüttet: Hochhäuser wurden abgetragen, finstere Ecken gelichtet, die Hälfte aller städtischen Gelder für die Renovierung von Schulen floss hierher. Latifa Ibn-Ziaten – „ich bin in erster Linie Weltbürgerin“ – gebar fünf Kinder im fernen Rouen, kam nur gelegentlich nach Toulouse, war für ein Bildungsprojekt in Marokko und antwortete mir daher schriftlich. Sie war stolz, dass „wir allein 2022 über 7.000 Jugendliche und Erwachsene in 39 Schulen und 27 Städten in ganz Frankreich sensibilisiert haben. In mehreren Fällen hat der Verein eine Versöhnung zwischen Schule und Familie erreicht“.

Ich stieg im Zentrum in die Toulouser Metro und war nach fünf Stationen da. Da, das hieß „dans les projets“, wie die Locals sagen: „in den (Sozial-)Projekten“. Allein die Postleitzahl 31200 war ein Stigma, mit dem man sich besser gar nicht erst um einen Arbeitsplatz bewarb. Ich sprach mit dem älteren Mitarbeiter eines Kulturzentrums. Gerade weil er wie der Islamist Merah algerische Eltern hatte, verstörte er mich: Er appellierte mit aufgerissenen Augen, ich möge bloß niemanden auf Merah ansprechen; schon gar keine Jungen, sie könnten mich attackieren. Er selbst kam aus einem anderen Viertel: „Ich arbeite seit anderthalb Jahren hier, doch darüber habe ich mit meinen hiesigen Kollegen noch nie gesprochen.“

Ich begann meinen Spaziergang erst bei Einbruch der Dunkelheit. Die sichtbaren „Projekte“ waren perfekt. Ein neuer Platz um die Metrostation, niedrige freundliche Wohnbauten mit großzügigen Balkonen, daran anschließend weiße, wie einem emiratischen Hochglanzprospekt entsprungene Neubauten. Dazu der staatliche Kindergarten „Jean Zay“ mit seinem geschwungenen lila Zaun („Liberté, Egalité, Fraternité“) oder die katholische, erst 2021 eröffnete Kindergarten-Grundschule „Laudato si’“ mit ihrer Holzlattenfassade („NEIN zu Unzivilisiertheit, JA zu Respekt“). Menschen kamen mit dem Bus von der Arbeit, darunter nicht als muslimisch zu lesende Frauen, sie gingen allein nach Hause. Woanders konnten sie auch nicht hin, Cafés oder offen zugängliche Treffpunkte gab es nicht, wenn sie nicht auf das Kirchencafé der kleinen wasserturmförmigen Kirche oder auf das Freitagsgebet im Moschee-Bungalow warten wollten. Apropos, es war Freitag, Maghrebiner in fußlangen Gewändern eilten zum Bungalow, ein Alter grüßte mich freundlich. Angezogen von einer Zwölf-Euro-Aktion, ließ ich mir im arabisch-sprachigen Friseursalon die Haare schneiden. Gossip war auch dort nicht drin, mein Friseur war Syrer und sprach kein Französisch.

Später sollte mir Frau Ibn-Ziaten schreiben: „Ein Fußballteam trug neulich ein Trikot mit dem Namen des Attentäters. Einige sehen ihn heute noch als Helden an, das ist dramatisch!“ Ich selber wanderte auch in einsamere Ecken von Les Izards hinein. Etwa in einen von Leuchtstelen gesäumten Gehweg, wo der Aufkleber „Boykott Israel“ der auch an den jüngsten Streiks in Toulouse beteiligten Gruppe „Palästina wird siegen“ prangte. Ich sah die Rückseite eines Baus am Hauptplatz: Zwei Dutzend junge Leute standen herum, fast alle mit deutlichem Abstand zueinander; es war unklar, wozu sie dort waren und warum sie feindselig schwiegen.

Mein Lieblingsort „in den Projekten“ von Les Izards war ein lange aufgegebener Sportplatz, den ich unbedingt noch sehen wollte. Er wurde mit einigem Pomp als erste Toulouser „éco-pâturage“ affichiert, als „durch die Aufnahme von drei Schafen auf dieser Brache“ gekrönte Viehweide. Hinter dem hohen, löchrigen Zaun lag jede Menge Sperrmüll, die drei Schafe – es sollte sich um „eine der ältesten Rassen Frankreichs“ handeln – waren leider gerade weg.

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