Träumen von Jerewan

Frankreich Der Krieg um Bergkarabach bewegt auch die Menschen im armenischen Viertel von Marseille
Ausgabe 13/2021
Im Dezember 2020 verlangten Demonstranten den Rücktritt von Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan
Im Dezember 2020 verlangten Demonstranten den Rücktritt von Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan

Foto: Karen Minasyan/AFP/Getty Images

Nun, da Armenien den zweiten Karabach-Krieg verloren hat, muss ich noch einmal nach Marseille. Das letzte Mal, vor reichlich einem Jahr, entdeckte ich hier die größte armenische Community Westeuropas, bis zu 50.000 Marseiller sollen armenische Wurzeln haben. Ich geriet in Euphorie: Ich träumte mich in der ranzigen Bar „Cilicie“ ins mittelalterlich-mediterrane Armenier-Reich Kilikien hinüber, sah mich schon im Beiruter Armenier-Viertel Bourj Hammoud Macchiato schlürfen und buchte Billigflüge nach Beirut und Jerewan. Dann Corona, diese Flüge wurden sämtlich gestrichen.

Jetzt komme ich mit dem Auto (der Freitag 11/2021). Im kleinstädtisch anmutenden Viertel Beaumont, das auf einem abfallenden Plateau über Marseille liegt, sind alle drei Einwanderungswellen versammelt. Die teils mit Meerblick gesegneten Villen wurden unmittelbar nach dem Genozid im Ersten Weltkrieg gebaut, später brachte der libanesische Bürgerkrieg weitere Armenier. Einwanderer der dritten Welle (Armenien, Syrien) haben zwei ärmliche Tante-Emma-Läden. Damals, Anfang 2020, lernte ich drei Armenier der Generation um die 60 kennen. In einem der Cafés, in denen unablässig Wettzettel zerknüllt auf den Boden geworfen wurden, traf ich einen von billiger Massenware ruinierten Schuhmacher. „Ich spreche sechs Sprachen“, prahlte der seit 35 Jahren in Beaumont ansässige Beiruter, „auch Türkisch und Kurdisch“. – „Wofür Türkisch und Kurdisch?“ – „Türken und Kurden sind jetzt im Konflikt, aber beim Genozid waren sie dieselbe Scheiße. Meine Oma hat durchgesetzt, dass alle in der Familie Türkisch und Kurdisch lernen müssen.“ – „Um den Feind zu verstehen?“ – „Um zu wissen, was er vorhat.“

Weiter begegnete ich einem Delikatessenhändler, er verkaufte Kaviar von Petrossian wie Konfekt aus Syrien und war ein echter französischer Bourgeois mit Wurzeln in der ersten Einwanderungswelle. Ryanair flog nach Jerewan, der neue Ministerpräsident Paschinjan („obwohl ein Soros-Mann“) weckte Hoffnungen auf ein Ende der Korruption. Und wenn einem Beaumont im August leer vorkam, musste man nach Jerewan schauen. Der Delikatessenhändler erwog den Kauf einer Ferienwohnung in Jerewan: „Meine Mutter blüht dort auf. In Marseille geht sie nach acht nicht mehr aus dem Haus, in Jerewan aber ruft sie mich spät abends an: „Was machst du, gehen wir auf einen Kaffee?“

Mein dritter Beaumonter Armenier war ein notpensionierter Zahnarzt, dem jahrelang Morphium gespritzt worden war. Er war in Addis Abeba aufgewachsen. „Für die Äthiopier waren wir christlich-orthodoxe Brüder, nach der sozialistischen Revolution wurden jedoch alle Ausländer ausgewiesen.“ Der Mann fuhr mich in seinem schwarzen BMW herum. Er hatte gerade ein ganzes Jahr in Armenien verbracht, Paschinjans friedliche Revolution erfüllte ihn mit den schönsten Hoffnungen.

Nun, im März 2021, wieder in Beaumont. Sonne und Wind und beschleunigte Geschäftigkeit. Um 18 Uhr müssen alle Geschäfte schließen, die Leute wegen Corona zu Hause sein. Die Cafés sind schon ein halbes Jahr dicht. Nach Armenien schafft es so gut wie niemand mehr. Junge Obsthändler schenken mir eine saftige provenzalische Birne, am syrischen Konfekt des Delikatessenhändlers fehlt neuerdings der Hinweis auf Syrien.

Ich fotografiere das Schild der Hauptstraße, „Avenue du 24 Avril 1915“, da werde ich misstrauisch angesprochen. „Europa“, wirft mir ein älterer Armenier libanesischer Herkunft vor, „hat die Armenier fallenlassen“. Er führt mich in seinen winzigen Straßenladen, in dem er nach einer englischen Methode Schuhe repariert. Er sitzt in der Ecke, spricht über muslimische Söldner und israelische Drohnen, mit denen Aserbaidschans Armee angeblich zahllose Armenier zerfleischt hat. Warum, fragt er, hat „Soros-Mann“ Paschinjan „Aserbaidschans Erdölanlagen nicht mit unseren Iskander-Raketen lahmgelegt?“ und antwortet: „Hochverrat, er hat sich von den Türken kaufen lassen.“ Als ich von Karabach sprechen will, unterbricht er mich bitter: „Ich war noch nie in Armenien.“

Kurz nach sechs breche ich auf, eine Stunde vor Sonnenuntergang, es gibt nichts mehr zu tun. Ich gehe noch auf den Grünstreifen in der Mitte der Durchgangsstraße. Der Morphium-Mann zeigt mir das Genozid-Mahnmal und erzählt dabei, dass sie keine Probleme mit Türken hätten, „es gibt keine“, nur unten an der Rhone-Mündung sei mal ein Türke tot liegengeblieben, das sei aber „ein Missverständnis“ gewesen.

Nun fliegt da plötzlich eine Drohne rum. Die Drohne umkreist mich surrend, sie ist tief und nah. Moment, sage ich mir, werde ich jetzt in einem fremden Krieg geschlachtet? Nach einer als quälend lange empfundenen Zeit entdecke ich endlich den Halter der Fernbedienung. Es ist bloß ein Mittelschicht-Franzose mit einem kindischen Hobby.

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