Vitalij Klitschko wirbt mit Faust und Daumen

Parlamentswahlen in der Ukraine Es riecht nach Revanche und "großer Koalition"

Demokratie schafft Jobs: In Kiew stehen kräftige Männer an stark befahrenen Straßen, einen Steinwurf voneinander entfernt und in die Farbe einer Partei gehüllt. Jeder dieser Männer hält eine lange Fahnenstange über die Straße und schwenkt die daran befestigte Parteifahne. Der Fahnenschwenker steht den ganzen Tag an dieser Stelle, er schwenkt von früh bis spät. Nur wenn er sich unbeobachtet glaubt, stellt er die Fahne kurz hin, zündet sich eine Zigarette an. Dann schwenkt er weiter.

Am 26. März wählt die Ukraine ein neues Parlament, und die Zeichen stehen auf Revanche. In allen Umfragen führt die oppositionelle "Partei der Regionen" des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Viktor Janukowitsch, dessen erschwindelter Wahlsieg 2004 die Orange-Revolution ausgelöst hatte. Die Demoskopen trauen dem tollpatschigen Hünen aus dem Donbass-Revier 30 Prozent zu; es kann durchaus auch mehr werden.

Auf den ersten Blick überrascht das Comeback eines Mannes, der im Verlauf der winterlichen Massendemonstrationen auf Kiews Majdan in der Bedeutungslosigkeit versank. Der aus einfachsten Verhältnissen stammende Janukowitsch, der als Ministerpräsident das mit zwölf Prozent höchste jemals in der Ukraine gemessene Wirtschaftswachstum erzielte, hatte sich in ein Sanatorium bei Moskau zurückgezogen und lange nichts von sich hören lassen. Nun aber scheinen die Wähler weder Janukowitschs Jugendstrafen noch die auf der Liste seiner Partei kandidierenden Oligarchen und Separatisten abzuschrecken - dafür ist die wirtschaftliche Bilanz der beiden von Präsident Juschtschenko eingesetzten Kabinette allzu dürftig.

Nicht nur Janukowitschs "blaues Lager", auch die nach sieben Monaten aus dem Amt der Premierministerin gefeuerte Julia Timoschenko lechzt nach Revanche - die eiserne Ikone der Revolution verlangt ihren Job zurück. Wenn Timoschenkos Wahlblock die Präsidentenpartei Unsere Ukraine - gleichsam die Mutter aller Orange-Parteien - überflügelt, wird der Präsident mit seiner verstoßenen Einpeitscherin reden müssen. Umfragen sehen die beiden größeren Parteien des längst heillos gespaltenen Orange-Lagers zwischen 14 und 22 Prozent.

Wenn auch Kleinparteien wie die revolutionäre Jugendbewegung PORA-PRP, die den Ex-Boxer Vitalij Klitschko als Frontmann gewonnen hat, den Sprung über die Drei-Prozent-Hürde schaffen, wird eine Orange-Regierungsmehrheit rechnerisch möglich - aber keinesfalls ohne Julia Timoschenko.

"Juschtschenko hat versprochen, die Banditen ins Gefängnis zu werfen, und stattdessen hat er all die korrupten Gestalten seiner Umgebung auf sicheren Listenplätzen untergebracht", kritisiert der zierliche Wahlhelfer Sergej, der unter dem Symbol einer Faust mit siegreich hochgerecktem Daumen für Klitschko wirbt. Als einer jener jungen Kiewer, die 2004 unermüdlich "Ju-schtschen-ko!" gebrüllt haben, versteht Sergej das erratische Handeln seines Präsidenten schon lange nicht mehr.

Sergejs Wahlstand steht auf Kiews Majdan, dem Hauptplatz der Revolution, zu seinem Leidwesen auf Tuchfühlung mit einer blauen Dependance der Partei der Regionen. Da sein blauer Nachbar gerade motiviert auf Passanten einredet, wagt Sergej noch einen leisen Nachsatz: "Wenn Juschtschenko nach der Wahl eine große Koalition mit diesen Donezker Banditen eingeht, hat er die Revolution endgültig verraten ..."

Einige Meter weiter liegen auf einem Verkaufstisch Fan-Schals des erfolgreichen Fußballklubs Schachtjor Donezk einträchtig neben Souvenirs der Orange-Revolution. Geht das Geschäft der Politik voraus? Irren die Gerüchte, die mit dem nahenden Wahltermin immer häufiger durch die Hauptstadt schwirren? Oder irren sie nicht? Ist die in der Ukraine bisher unbekannte "grand-koalizija" in Blau-Orange längst ausgemacht?

Der Vorrat an Gemeinsamkeiten zwischen beiden Lagern, die sich in der Materialschlacht des Wahlkampfs so feindselig wie immer gebärden, könnte größer sein als zunächst angenommen. Die Angriffe zwischen Unsere Ukraine und der Partei der Regionen dienen denn auch mehr dazu, die Führerschaft gegenüber dem eigenen Anhang zu behaupten, als dem jeweils anderen Wähler abspenstig zu machen. Wie bei sämtlichen Abstimmungen seit der Unabhängigkeit von 1991 gehorchen die Sympathien der Wähler einer geradezu schematischen Zwangsläufigkeit: auf der einen Seite die ukrainisch-national orientierten Bewohner der West- und Zentralukraine, auf der anderen die russischsprachige Bevölkerung der Schwarzmeerküste und des dicht besiedelten Ostens.

Sowohl Unsere Ukraine als auch die Partei der Regionen sind Volksparteien mit einem schwachen ideologischen Profil, sie werden weitgehend von Karrieristen und Unternehmern getragen, denen ein Parlamentsmandat in erster Linie als Absicherung ihrer Geschäftstätigkeit gilt. So findet sich auf dem siebten Listenplatz der "Regionalen" der bislang diskreteste Oligarch der Ukraine, der jungdynamische Rinat Achmetow, Besitzer von Schachtjor Donezk, Eigner des Donezker Firmengeflechts System Capital Managment und laut Forbes-Liste reichster Mann der Ukraine. Der blonde Tatare Achmetow, der in den achtziger Jahren als reisender Kartenspieler begann und über das darauf folgende zehnjährige Loch in seiner Biographie keine Auskunft gibt, wird mittlerweile sogar - wenn auch auf mittlere Sicht - als Premierminister gehandelt.

Auf der Liste von Unsere Ukraine finden sich wiederum all jene Intriganten, die mit ihrer hartleibigen Hinterzimmerpolitik die Demission der Regierung Timoschenko ausgelöst haben: Dazu zählen der Schokoladenbaron und TV-Unternehmer Petro Poroschenko, der Taufpate von Juschtschenkos Kindern, dessen Interessen bis in die Republik Moldawien reichen, und der ethnische Georgier David Schwanija, der die unrühmliche Hauptrolle in gleich zwei Affären gespielt hat: Schwanija war jener "vierte" Mann, der seinerzeit für Juschtschenko das Abendessen mit den beiden Spitzen des Geheimdiensts eingefädelt hat, das mit der bis heute nicht aufgeklärten Vergiftung des Gastes endete, wobei Juschtschenko an einer Aufklärung auffällig wenig Interesse zeigt. Schwanija war es auch, der im Präsidentenwahlkampf 2004 die Millionen-Spende des im britischen Exil lebenden russischen Milliardärs Boris Beresowski abgewickelt hat - was der Unternehmer heute leugnet.

Der Präsident, der im Zweifelsfall auf Leute wie Poroschenko und Schwanija hört, hat das Kapital an Vertrauen, das er aus der erfolgreichen Revolution geschöpft hat, innerhalb weniger Monate aufgezehrt und sich fortlaufend selbst geschwächt. Mit Jahresbeginn ist eine neue Verfassung in Kraft getreten, die seine Kompetenzen zugunsten von Parlament und Regierung beschneidet. Viktor Juschtschenko hatte ein Jahr lang zum "Durchregieren" Zeit - die Chance wurde verspielt, dank fortwährender Unsicherheit ist das Wirtschaftswachstum eingebrochen.

Gegen den Willen einer großen Mehrheit hat der Staatschef das Land so nahe an die NATO herangeführt, dass bereits in drei Jahren ein Beitritt möglich scheint. Kein Wunder, dass man sich unter diesen Umständen von Moskau entfernt hat - die Verdoppelung des Gaspreises durch Russland wird den beiden stärksten Branchen der ukrainischen Industrie, der Chemie und Metallurgie, nachhaltig schaden.

Im Frühjahr 2005 hob Juschtschenko als einsame Vorleistung die Visa-Pflicht für EU-Bürger auf, was zu einer gewissen Belebung des Tourismus geführt hat. Der eigentliche Zweck der Übung jedoch wurde verfehlt: Schengen-Europa hat seine Visa-Bestimmungen in der Zwischenzeit nicht nur in keiner Weise gelockert, sondern die Preise für Visa noch empfindlich erhöht. Äußerungen wie die des EU-Außenpolitikers Javier Solana, für die Ukraine komme "alles außer Mitgliedschaft" in Frage, haben den in Prozentzahlen schwer zu fassenden Teil der Ukrainer enttäuscht, der tatsächlich in die EU strebt. Und die Opposition, die für eine Belebung des "Einheitlichen Wirtschaftsraums" mit Russland, Belarus und Kasachstan eintritt, hat ein Argument mehr, um zu punkten.

Einer jener Orte, an dem die Menschen allein auf Russland hoffen, ist Energodar. Der Weg dorthin führt in die südukrainische Steppe, auf "blaues" Territorium. Sämtliche Birken der endlosen Zufahrtsallee sind mit wehenden Bändern des kleinen linken Blocks Witrenko geschmückt, dessen Vorsitzende Natalija Witrenko dem weißrussischen Präsidenten Lukaschenko als eine der ersten zum 83-Prozent-Wahlsieg gratuliert hat - Witrenko empfiehlt der Ukraine, Weißrussland als Vorbild zu betrachten.

Energodar, 60.000 Einwohner stark, wird "Energiehauptstadt" der Ukraine genannt: Hier steht das mit sechs Reaktoren größte Kernkraftwerk Europas. Ein Unternehmen, das seine Mitarbeiter überdurchschnittlich gut verdienen lässt, während Marina Luzenko als Kellnerin in einem Café der Stadt gerade einmal auf umgerechnet vier Euro pro Abend kommt. Auch an ihren freien Tagen sitzt die allein erziehende Mutter manchmal in ihrem Lokal, die Kolleginnen geben ihr dann einen aus, und sie spült ihre Verzweiflung für eine Weile hinunter. Die Revolution hat sie seinerzeit im Fernsehen erlebt. "Es waren so viele lachende Gesichter zu sehen. Ich hatte gehofft, dass uns jetzt wenigstens Europa unterstützt."

Draußen, vor dem Café, zieht die Jugendbewegung der "Regionalen" mit blauen Fahnen vorüber, die ältere Generation strömt erbaut aus dem größten Saal der Stadt, in dem soeben Natalija Witrenko für panslawische Brüderlichkeit geworben hat. Der noch zu Zeiten des Präsidenten Leonid Kutschma eingesetzte AKW-Direktor kandidiert plötzlich für "Orange", und die im Herzen wohl orange gebliebene Julia Timoschenko wirbt mit der Symbolik eines tiefroten Herzens. Alles reichlich verwirrend.

Vom Alkohol mutig geworden, geht Marina einen Orange-Aktivisten an: "Ich bekomme vom Staat 40 Griwnja (sieben Euro - d. Verf.) Kinderbeihilfe im Monat. Ist das etwa gerecht?" Der Angesprochene streicht eines der wenigen Versprechen heraus, das Juschtschenkos Regierung gehalten hat: das Geburtengeld von umgerechnet 1.400 Euro, einen für ukrainische Verhältnisse sagenhaften Betrag. Die Summe entspricht dem Durchschnittseinkommen eines Ukrainers für anderthalb Jahre.

Marina reißt ungläubig die Augen auf, dann winkt sie aber unwirsch ab: "Soll ich mir dafür ein Kind machen lassen? In neun Monaten seid ihr schon lange weg vom Fenster, die Gebärprämie ist gestrichen, und ich stehe mit drei Kindern da." Die ukrainische Geburtenrate - immerhin kein unbedeutender Maßstab für Vertrauen - ist im Jahr nach der Revolution noch einmal gesunken.


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