Eigentlich will ich nur von dieser Hose erzählen, doch geht das nicht, ohne den Rosenkrieg zwischen der EU und Großbritannien zu streifen. Bei meinen Erkundungen der Brüsseler Europablase stellte ich über die Jahre fest, dass Briten in politischen Fragen selten Präsenz zeigen – als Lobbyisten, Hüter der City of London und Verfechter des Freihandels aber sehr wohl. Einmal kamen mir auf einem Empfang im EU-Parlament junge kurzhaarige Ehrgeizler von der konservativen britischen Regierungspartei unter. Ich nutzte die Gelegenheit, sie über Sinn und Ziel der EU zu befragen. Einer antwortete todernst: „Die wichtigste Agenda der EU ist der Binnenmarkt.“ – „Aber Moment, den Binnenmarkt haben wir schon.“ – „Nana, da fehlt noch viel, er muss vollendet werden.“
Nun war ich wieder einmal in der Hauptstadt und hatte vom Wein mehrerer Empfänge genippt. Mit mir der unglückliche EU-Beamte Staszek, der inzwischen fast jedes Wochenende ins heimatliche Krakau fliegt. Staszek boykottiert Belgien, er frühstückt und nachtmahlt nur noch die mitgebrachte polnische Leberstreichwurst, eine Art Pastete. Jedenfalls traten wir aus dem Europäischen Parlament auf den dunklen Vorplatz hinaus. Die Place Lux – die Partyzone der Eurokraten – war leer. Da tat sich uns eine Erscheinung auf, rot in die von dünnem belgischen Regen beträufelte Nacht hinaus leuchtend, eine Offenbarung von Stilwillen. Klassische schwarze Schuhe und ein anthrazit-graues Nadelstreif-Gilet dämpften die Farbwucht eines rosa Karohemds, einer bunten Krawatte – und einer Cordhose von einem wahrhaft höllischen Rot. Diese Hose hypnotisierte mich.
Sex für 20 Pfund
Staszek sprach den Mann als „Sherlock Holmes“ an, der stattliche Engländer freute sich. Die längliche Narbe auf seiner Wange erinnerte mich an schlagende Burschenschaften, der Betroffene hatte aber eine bessere Erklärung: „A prostitute bottled me.“ Die Prostituierte habe ihm unaufgefordert Sex für 20 Pfund angeboten, er habe sie ausgelacht, da habe sie ihm eine zerbrochene Flasche übergezogen.
Er war allein unterwegs, fühlte sich auf dem buckeligen Brüsseler Pflaster sichtlich wohl. Umso mehr überraschte mich, dass er dem inneren Zirkel der britischen Unabhängigkeitspartei UKIP angehörte. „Ich mag Brüssel, ich mag das Ausland, es soll nur Ausland bleiben.“ Die UKIP ist zur Zeit laut Umfragen die populärste britische Partei, gut zwei Monate vor der Europawahl Ende Mai goutieren bis zu 27 Prozent der Briten ihr Programm gegen Einwanderung und für einen EU-Austritt, gegen Sozialleistungen für Zuwanderer und für erhöhte Militärausgaben.
Der Mann in der roten Cordhose genoss es, das Klischee eines insularen Herrenmenschen zu konterkarieren. Während sein Parteichef Nigel Farage den EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso auf Fox News als „verirrten Idioten“ angriff und als „Kommunisten, der den Vorsitzenden Mao unterstützt hat“, äußerte sich der Brüsseler Mitstreiter klüger. „Es ist Quatsch, die EU mit der Sowjetunion zu vergleichen. Die EU ist undemokratisch, aber auf ihre Weise. Sie ist eine liberale Autokratie.“ Er räumte auch ein, dass Korruption nicht der zentrale Vorwurf sei, den man Brüssel machen müsse, „Korruption ist überall“. Sein zentraler Vorwurf: „Die Leute mögen es nicht, wenn ihnen jemand sagt, wie sie zu leben haben.“
Eine letzte Frage
Man folgte meinem Vorschlag, zusammen ins nahe Afrikanerviertel Matongé zu gehen, in meine geliebte Callebasse, eine enge Bar in der schmalen Spitze eines Eckhauses, vorwiegend von kongolesischen Männern frequentiert. Der ehemalige Journalist und UKIP-Mann pries den euroskeptischen tschechischen Ex-PräsidentenVáclav Klaus mit zum Teil sachlich falschen Informationen. Er erklärte Bayern seine Liebe, „ich bin ein Bayer“. Für den Österreicher in mir zog er eine Anekdote über den verstorbenen Europa-Abgeordneten Otto von Habsburg aus dem Hut. Er war brillant. Er nannte sich einen „Libertarian“ und „mehrheitlich gläubig“. Er zeigte mir die Familie auf seinem Smartphone und weidete sich abermals an meiner Verblüffung. Seine Frau war eine Inderin mit dreifachem Migrationshintergrund, „aber alles innerhalb des Commonwealth“!
Der Brite hat gute Chancen, demnächst ins EU-Parlament einzuziehen. Täte es ihm nicht leid, wegen eines EU-Austritts seines Landes bald wieder ausziehen zu müssen? Der frivole Paradiesvogel, der als Lebensziel „have fun“ angab und kaum ein typischer Kader der neoliberal-rechtspopulistischen UKIP war, lachte vergnügt. Das wäre doch wunderbar. Nein, der Angehörige der „Upper Middle Class“ kannte keine Sorgen um seine Existenz.
Er hatte Philosophie studiert und erklärte das Problem Kontinentaleuropas mit dem Idealismus, „der sich einen perfekten Menschen vorstellt“. Er nannte den deutschen Philosophen Immanuel Kant „einen Wahnsinnigen, der sagt, du darfst keinesfalls lügen, auch wenn im Zimmer nebenan dein Vater ermordet wird“. Von daher das ganze Blutvergießen auf dem Kontinent. Für die Jakobiner während der Französischen Revolution seien die Gegner „weniger als Menschen“ gewesen. „Das gab es in Britannien nicht. Wir haben die Tradition des Common Law. Wir wissen, dass der Mensch nicht perfekt ist.“
Ich hatte eine letzte Frage: Warum will er nicht in ganz Europa dafür kämpfen, was er im freiheitsliebenden Zweiklang liberty and freedom nannte? Er seufzte. „Das wäre richtig, aber ich habe die Zeit nicht.“ Die Mission Britanniens sei es, von draußen als Vorbild einer „nationalen Demokratie“ zu wirken.
Und damit beginnt die eigentliche Geschichte. Am nächsten Morgen zog ich los, um Ausschau zu halten nach einer solchen Hose. Ich fand eine, in einem dezenteren Rot. Auf ihr stand geschrieben: „Verjüngt Ihre Silhouette“. Der Spiegel gab der Aufschrift recht, aber sie war teuer. Ich zögerte mit pochendem Herzen. Ich gab mein letztes Geld für sie. Ich trage sie nur zu festlichen Anlässen. Sie schimmert und verleiht mir Glanz. Danke, England, bevor du uns verlässt, für diese Inspiration!
Martin Leidenfrost schrieb in dieser Serie zuletzt über die depressive Stimmung im französischen Biarritz
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