Von wegen Europa

Ukraine Deutsche Medien berichten, Kiew sei ein Meer aus EU-Fahnen. Aber auf dem Majdan-Platz dominiert nicht die Aufklärung
Ausgabe 49/2013

In der Nacht nach dem Gipfel von Vilnius war eigentlich alles vorbei. Die Demonstranten hatten mit ihrem „Euro-Majdan“ nicht erzwingen können, dass Präsident Wiktor Janukowytsch das Assoziierungsabkommen mit der EU doch unterschreibt. Anstatt das Totlaufen der Bewegung abzuwarten, räumte die Sonderpolizeitruppe Berkut den Kiewer Hauptplatz Majdan. Der Präsident entschuldigte sich rasch, da wurden die Fotos verletzter Jugendlicher schon durch die sozialen Netzwerke gejagt.

Am folgenden Samstag passierte dennoch nichts. Auf der angrenzenden Flaniermeile spazierten Familien mit Luftballons. Ein Millionär mit Megafon rief sich zum „Leader“ des Euro-Majdans aus, promotete aber tatsächlich seinen Bereicherungsratgeber. Ein paar Tausend versammelten sich auf einem entlegenen Platz. Ein müdes Rückzugsgefecht, nationale Parolen, von Europa war kaum noch die Rede.

Auf dem Majdan-Platz selbst war ein grünes Metallgerüst aufgetaucht, das Fundament eines Weihnachtsbaums. Drumherum ein Gitter aus grauem Blech, dahinter dicht stehende Polizisten. Junge Facebook-Mädchen legten ihr Kinn auf die Absperrung und flüsterten den ebenfalls sehr jungen Polizisten provozierende bis zärtliche Bemerkungen zu. Ein paar Schaulustige diskutierten, einige verteidigten die Einsatztruppen: „Die können nichts dafür, die sind doch gerade mal 17, das sind doch Ukrainer.“ Die Dialoge drehten sich um den „Tannenbaum“, klangen wie aus einem Stück von Ionesco. Niemand zeigte den Impuls, die Absperrung niederzurennen. Nur einer krakeelte: „Ich will diese Tanne nicht! Ich will, dass es dieses Jahr überhaupt kein Neujahr gibt!“

Sonntagmittag war alles anders. Eine von westukrainischen Männern verstärkte „Nationalversammlung“ marschierte auf die Tanne zu, die Polizisten rannten in alle Richtungen davon. Provokateure griffen Regierungsgebäude an, prügelten sich mit den hartleibigen Berkut-Truppen. Nun, da die Tanne sichtbar befreit war, fluteten Hunderttausende Demonstranten das Zentrum.

Deutschsprachige Medien schrieben, Kiew sei ein Meer aus EU-Fahnen, Boxweltmeister Vitali Klitschko würde neun Jahre nach der Orangenen Revolution eine neue Revolution anführen. Das wäre Labsal besonders für die deutsche Seele. In Wahrheit wurden fast nur Fahnen der Ukraine und der kleinen nationalistischen Oppositionspartei Swoboda geschwenkt. Die größeren Oppositionsparteien wie Klitschkos UDAR hechelten dem demagogischen Swoboda-Führer hinterher. Oleg Tjagnibok übernahm Julia Timoschenkos Einpeitscherrolle von 2004, trieb die Opposition in die Totalforderung nach Sturz von Präsident und Regierung. Bald zeigte sich, dass Tjagniboks Generalstreik floppte, und die Abwahl der Regierung im Parlament scheiterte.

Seither ist die gesamte Opposition im Schlepptau einer paramilitärisch auftretenden Partei, die Hasstiraden gegen Russischsprachige verbreitet. Antisemitisch und homophob, wären die Swobodovzy im EU-Parlament zu Marine Le Pen verbannt, zu Hause geben sie sich als Champions der europäischen Integration. Bleibt die Frage, wohin sich die Tanne neigt. In Richtung EU, die der klammen Ukraine keine helfende Hand gereicht hat? In Richtung Familienzusammenführung mit Russland, wie sich das nur unwesentlich weniger Ukrainer wünschen? Der Eindruck von den ersten Revolutionstagen sagt: weder hierhin noch dorthin. Es habenandere die Lufthoheit – die geistigen Erben der ukrainischen Pogrome.

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