Wölfe in Wäldern

Ukraine Am Sonntag wurde über ein neues Parlament und alte Machtfragen entschieden. Unser Autor ist mit Bahn und Bus durchs Land gefahren und hat einfach nur zugehört

Von Kosiče nach Uschgorod. Nach Jahren fahre ich wieder mit dem Autobus über die slowakisch-ukrainische Schengen-Grenze, und alles ist anders. Es gibt fast keine Fahrgäste, dafür haben auf sämtlichen Fensterplätzen Kartons mit Joghurts, Chips und Biskotten (so nennt man auf österreichisch und slowakisch das, was in Deutschland Löffelbiskuit heißt) Platz genommen. Es dauert, bis ich das neue Schmuggelschema verstehe: Wegen des geringen Preisunterschieds zwischen der Ukraine und der Slowakei lohnt nur der Transport von großen Mengen Aktionsware, die man unter Mitarbeit eingeweihter Zöllner über die Grenze bekommt. Die Mehrwertsteuer holt man sich legal zurück, das schmuggelnde Personal ist auf drei athletische Frauen reduziert. Es ist schon dunkel, als eine feinsinnig lächelnde Zöllnerin den Bus betritt. „Warum so spät?“, fragt die Ukrainerin den Fahrer. Sie macht kein Licht an, schreitet gemessenen Schrittes durch den Bus, ihr Blick schweift vage über die gestapelten Löffelbiskuits hinweg. „Sehr gut“, sagt sie. Und steigt aus.

Danach im Schlafwagen Uschgorod–Kiew, ich verbringe 16 Stunden mit einem ukrainischen Ehepaar mittleren Alters. Der Ehemann, adlerscharf geschnittenes Gesicht und langes mit einem Haarreifen fixiertes Haar, beeindruckt mich. Er küsst seine Frau am Abend und am Morgen, liest ihr von seinem Smartphone Witze vor. Die Ansicht des liebenden Ehemanns währt bis kurz vor Kiew, als sich der schöne Adler unserer vierten Mitreisenden als Assistent eines Abgeordneten der Partei der Regionen vorstellt, der Partei des seit 2010 regierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch. Die vierte Mitreisende neigt der Opposition zu, dem orangenen, westlich orientierten oder beschönigend „demokratisch“ genannten Lager, ist aber hauptsächlich traurig über ihr Land. Der Adler erklärt mit stechendem Blick, er sei neunmal klinisch tot gewesen, in Afghanistan hätten ihn Heckenschützen erwischt. Das Problem der Ukraine sei ein Mangel an Selbstachtung, trägt er vor; solange man das nicht an der Wurzel gepackt habe, brauche man mit dem Kampf gegen die Korruption gar nicht erst zu beginnen. Er sagt, in seinem Wahlkreis hätten die Leute immerhin Arbeit und Sicherheit.

Die Vierte im Abteil versucht ihn festzunageln: „Sie haben bestimmt die bombastischen Villen der Zöllner in Uschgorod gesehen. Sagen Sie, ist es möglich, im Zoll Ordnung zu schaffen? Ja oder nein?“ Er antwortet rasch: „Wozu?“ Und nach längerem Überlegen: „Unter den gegebenen Umständen ist das nicht möglich. Sie müssen die nationale Mentalität berücksichtigen.“ Er zeigt aus dem Fenster, in den Wald, dort kommt ihm eine wilde Mülldeponie gerade recht. „Haben das Janukowitsch und seine Abgeordneten hingelegt?“ Er führt an, dass er ein großes Gasunternehmen vertrete und sagt: „Wir haben drei Abgeordnete für zwei, drei Millionen gekauft, damit sie im Parlament unsere Interessen vertreten.“ Ein Politiker mit Gewissen würde bis zu zehn Millionen Dollar kosten, fügt er hinzu. „Wie zynisch Sie sind!“, ruft die Mitreisende. Der treu sorgende Ehemann darauf: „Soll ich an Hunger krepieren für Ihren Romantizismus?“

Timoschenko kein Thema

Ich will eine Woche durch das Land fahren, keine Fragen stellen und der Bevölkerung unauffällig zuhören, unterwegs und um das Charkower Gefängnis herum, in dem die Oppositionsführerin Julia Timoschenko ihre vorläufig siebenjährige Haftstrafe absitzt. Während ihrer Regierungszeit hörte ich die gleichen Geschichten, je nach Listenplatz wurde ein Abgeordneter mit zwei bis fünf Millionen Dollar bewertet. Eigentlich ist mit den unverblümten Worten des Adlers schon alles gesagt. Durch den Wald vor Kiew sehe ich ein kleines Rudel jener Hunde streunen, die in der Krise massenhaft ausgesetzt wurden. Zunächst streunten sie nur in den Städten, nun sehe ich sie auch schon in den Karpaten. Die Hunde fliehen in die Wälder. Entweder sie krepieren dort. Oder sie verwandeln sich wieder in Wölfe.

Am 28. Oktober wählt die Ukraine ein neues Parlament. Die Partei der Regionen führt in allen Umfragen, sämtliche Oppositionsparteien zusammen kommen aber auf gute Werte. Die Popularität des Präsidenten verfiel im zweiten Regierungsjahr, vom IWF diktierte Maßnahmen wie die Rentenreform empörten seine Wählerschaft. Inzwischen hat Janukowitsch seiner Popularität mit einer fröhlich verlaufenen Fußball-EM, durch eine kleine Rentenerhöhung und die Abwesenheit der begnadeten Populistin Timoschenko aufgeholfen. Vor allem aber nützt ihm die Rückkehr zum Wahlrecht von 2002. Danach werden 225 der 450 Mandate wieder über Einer-Wahlkreise besetzt. Selbst wenn die Opposition nach Prozenten gewinnt, dürften sich die 225 Lokalmatadore wie gewohnt mit der Macht arrangieren.

Laut Umfragen werden Timoschenkos schwächelnde Vereinigte Opposition und Vitalij Klitschkos Partei Schlag ins Parlament ziehen. Oleg Tjahniboks ukrainisch-nationale Faschisten könnten das westliche Lager noch verstärken. Diese sogenannte Freiheitspartei bleibt jedoch auf ein galizisches Getto verbiesterter Russenhasser begrenzt. Auf ein zweistelliges Resultat steuern die halb mitregierenden Kommunisten zu. Seit ihr ewiger Chef Petro Simonenko eine jüngere Frau hat, wirkt die ganze Partei plötzlich frischer. Man wirbt nun mit dem Majakowskij-Gedicht: „Friss Ananas, Bourgeois, und Haselhuhn. / Musst bald deinen letzten Seufzer tun.“ Nachdem sie die geplante Legalisierung des Verkaufs von Grund und Boden verhindert haben, stehen die Kommunisten als einzige linke Alternative da, andere linke Parteien haben sich aufgelöst.

Die Ukraine ist ein hochpolitisiertes Land. Die großen Fernsehsender strahlen täglich bis tief in die Nacht politische Talkshows aus, moderiert von aus Russland ausgewanderten Talkmastern; dort haben sie keine Arbeit, dort wird nicht diskutiert.

Auch Gespräche in den Schlafwagen des Mittelklasse-Typs Coupé zwischen Donezk und Dnjepropetrowsk streifen fast immer die Politik. Kein Ukrainer bringt dabei die Themen auf, die von EU-Vertretern in der Ukraine forciert werden – die medizinische Behandlung der Oligarchin Timoschenko oder das kurz vor der Wahl eingebrachte Gesetz über ein Verbot des Werbens für Homosexualität.

Messias der Stunde

Ukrainer haben andere Sorgen. Ich genieße die rhetorische Gewandtheit, die Lebensklugheit und den Humor dieser Debatten im Coupé. Da wäre der pensionierte Ingenieur eines Kohleschachts aus dem Donbass, der seiner Niere etwas Gutes tun will mit dem Heilwasser der Karpaten. Die Objektivität seiner Analyse raubt mir beinahe den Atem. In Krasnoarmejsk steigt ein weiteres Rentnerpaar zu – Kurortniki auch sie. Ich lege mich auf die obere Pritsche und döse. Als sie von den Kurgeschichten zur Politik kommen, äußert sich der pensionierte Kohlekumpel mit einer deutlich anderen Färbung als bei mir zu denselben Themen. Nun greift er Janukowitsch nicht mehr direkt an, und statt des vorher sehr differenzierten Urteils nennt er Timoschenko einfach nur noch einen „kranken Menschen“.

Wen lügt er an, den Ausländer oder den Landsmann aus dem Donbass? Haben die Donezker mit der Euro Eurosprech gelernt? Und noch eine Frage: Wenn doch in den Schlafwagen des Landes alle so klar das Problem zu analysieren wissen, warum bleibt das Land dennoch gefesselt in einer erniedrigenden Oligarchokratie? Ist es der eingeübte Zwang, sich letztlich doch einem der beiden Lager zugehörig zu fühlen? Wählt der Hungerleider im Zweifelsfall den Dieb, den Oligarchen, die Marionette seines Lagers, nur damit nicht die Diebe des anderen Lagers ans Ruder kommen?

Unterwegs von Kiew nach Charkow. In einem der sechs für die Europameisterschaft gekauften Züge, über die das Land ein Jahr diskutiert hat. Mein smarter Kohlekumpel hat sie „den ersten Schritt nach Europa“ genannt. Man sitzt wie im Flugzeug. Niemand diskutiert. Es gibt keine Abfallbehälter, dafür geht fortwährend eine Bedienstete durch den Wagen und murmelt: „Müll, Müll“. Die Frau, zu einem laufenden Mülleimer degradiert, geht Tag für Tag viele Schritte Richtung Europa.

Charkow, die zweitgrößte Stadt des Landes. Ich stolpere unwillkürlich in eine geistliche Buchmesse. Der Renner ist ein Büchlein gegen Freimaurer und Zionisten, das Stalin aus einer russisch-orthodoxen Perspektive verteidigt. Ein adretter Typ in einem bodenlangen Ledermantel ruft mir zu: „Nehmen Sie es, es ist das letzte Exemplar!“

Ich gehe mit dem Typen auf einen Kaffee. Ich erzähle, dass ich zur Katschanowsker Kolonie Nr. 54 will. „Arbeitskolonie“, verbessert er mich und mokiert sich, dass Julia Timoschenko im Knast nicht arbeitet. Das sehen hier viele so. Der adrette Typ ist Jurist und Anhänger des Moskauer Patriarchats. Er schreibt Bücher über spirituelle Phänomene. Ich ordne ihn automatisch dem „russophilen“ Lager zu. Ich frage ihn, wen er wählt. Er zieht mit verschwörerischer Miene einen Kalender. Der Kalender zeigt – Vitalij Klitschko.

Der Boxer ist zum Spielmacher der Wahlkampagne aufgestiegen, manche Umfragen zeigen ihn schon vor Timoschenkos Vereinigter Opposition. Seine politische Karriere in der Hauptstadt endete glücklos, die Abgeordneten seines Wahlblocks Vitalij Klitschko im Kiewer Stadtparlament machten ihm nicht wenig Schande. Nun will er aus damaligen Fehlern gelernt haben. Der Boxer ist der Messias der Stunde. Er ist im Moment der Einzige, der die unglückselige Lagerteilung des Landes in einem gewissen Maße überwinden kann.

Das Gefängnis, in dem Timoschenko sitzt, liegt auf Charkows ehemaliger Mülldeponie. Immerhin 25 Prozent haben die Ex-Ministerpräsidentin 2010 im umgebenden Wahlkreis gewählt, sie sitzt nicht in absolutem Feindesland. Rings um die Haftanstalt gibt es eine flache Bebauung, viel Firmengelände, dazu Kastanien und Ahorn. Es mag der milden, herbstlichen Abendsonne zuzuschreiben sein, dass mir das Viertel harmonisch erscheint.

Über dem Eingangstor des Knasts ein Werbeplakat für die Arbeitskleidung, die von den Insassinnen hergestellt wird. Davor liegt ein junger Besoffener im Herbstlaub und vermag nicht mehr aufzustehen. Innerhalb kurzer Zeit versorgt ihn ein Rettungswagen. Um den Stacheldrahtzaun einer angrenzenden Firma rankt sich Weinlaub. Im Halbkeller der Firma Ukrainskij Express sitzen Frauen, fischen Plastikschmuck aus Kartons, stecken die Schmuckstücke in kleine Plastiktüten und binden sie flink zu. Ich sehe ihnen lange vom Bürgersteig aus zu. Ukrainskij Express zahlt wohl nach Stückzahl und nicht nach Zeit, niemand bemerkt mich.

Ich setze mich ins nächstgelegene Café. Es heißt Gangster Pizza. Die Barfrau ist schon Witwe, ihr Mann starb mit 40, „an Wodka“. Sobald Jeanna weiß, dass ich wegen der ehemaligen Premierministerin durch das Viertel ziehe, schlägt sie einen giftigen Ton an: „Wenn sie dich so interessiert – sie ist zu haben. Ihr Mann hat sich mit der Kohle nach Tschechien abgesetzt.“ Jeanna behauptet, von ihrem Balkon auf Timoschenkos Zelle zu sehen. „Wenn sie nicht im Spital bei ihren deutschen Ärzten ist, läuft sie dauernd in der Zelle auf und ab.“ Jeanna hat vorher in einem anderen Café gekellnert, „da kamen ganze Busladungen von Demonstranten an, die mit Tee versorgt werden wollten. Das hat der Laden nicht überlebt.“ Auch auf die Regionalen ist man bei Gangster Pizza schlecht zu sprechen, seit diese am Gagarin-Boulevard vier Reihen Linden gefällt haben, „damit das hier für die Euro schön europäisch aussieht.“ Dass Julia Timoschenko einsitzt, findet Jeanna richtig.

Schließlich die Busfahrt Ukrainka–Kiew. Die Strecke führt auf der Länge von 20 Kilometern an den abgeschirmten Villenkolonien der oberen Zehntausend vorbei. Die Ukraine ist kein Land des Waldes, sie ist ein weites, offenes Land der Felder und Haine. Die ukrainische Elite wohnt aber im Wald. Es ist ein dichter, ziemlich hässlicher Nadelwald, viel Sonne kriegen die gekauften Abgeordneten nicht ab. Es gibt bislang keinen Hinweis, dass sie sich von Wölfen in Menschen zurückverwandeln.

Martin Leidenfrost schrieb im Juni über die Ukraine kurz vor der Euro

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