Von Tromsø, nach Murmansk und Norilsk der größten nördlich des Polarkreises gelegenen Stadt, erwartete ich Finsternis und Kälte. Die nordnorwegische 77.000-Seelen-Kommune, die sich als „Hauptstadt der Arktis“ promotet, sieht zwischen 21. November und 21. Januar die Sonne nicht. Ich hatte in diesem Winter schon in Verkehrsmitteln, Flughäfen und Zimmern auf südlicheren europäischen Breiten gefroren und im – dank „Iberischer Lösung“ – gut geheizten Asturien eine ukrainische Künstlerin kennengelernt, die ihre Berliner Wohnung seit dem 24. Februar gar nicht mehr heizte. Sie hatte zwar aus der Kindheitserinnerung an das heiß geheizte Haus ihres Großvaters auf der Krim die Gleichung „Wärme i
e ist Liebe“ behalten, doch 2022 wurde sie erst vier- oder fünfmal für eine halbe Stunde schwach. Nun im Dezember waren für Tromsø mindestens minus zehn Grad vorhergesagt. Ich besorgte mir Thermowäsche bei „Peek Performance“ und flog los.Als ich spät am Abend ankam, immerhin 344 Kilometer jenseits des Polarkreises, war es nicht gar so finster. Der nicht geräumte Hartschnee reflektierte das Licht des fast vollen Mondes, auch unbewohnte Straßenzüge wurden massiv beleuchtet. Und an buchstäblich jedem Haus erstrahlten gelbliche Lichterketten, hinter fast jedem Fenster sah man dasselbe Modell des Weihnachtssterns. Nur auf der einschüchternd hochgereckten Spannbetonbrücke Tromsøbrua, welche das auf einer Insel gelegene Zentrum mit dem Festland-Viertel Tromsdalen verbindet, blies mich ein kalter Wind an. Die gut einen Kilometer lange Brücke – sie wird hauptsächlich von asiatischen Gastarbeitern begangen – knirschte hohl unter meinen Schritten.Drüben in Tromsdalen angekommen, sah man umgehend welche von den meist jungen und manchmal blondierten Asiaten, die eigens für das Polarlicht nach Tromsø gekommen waren. Ein Paar filmte rotierend und jubelnd ein bescheidenes wolkengleich weißes Berglicht. Der Seniorwirt meines chinesischen Halbkellerhostels, für das ich mich entschieden hatte, nahm eine Lichterkette vom Family-Balkon. Das Hostel war zum Ersticken überheizt.Am nächsten Morgen wanderte ich zum Sekretariat des Arktischen Rates. Gegen neun kam ein mattes Zwielicht auf und erwies sich als ein bis gegen dreizehn Uhr langsam in Abenddämmerung übergehendes Morgengrauen. Ich war ein wenig enttäuscht, das war ja doch so etwas wie Tageslicht. An der Straße – benannt nach Fridtjof Nansens Nordpolsuchgefährten Hjalmar Johansen – und in einem Büroblock – benannt nach Nansens Nordpolsuch-Schiff „Fram“ – hatten viele Arktis-Institutionen ihren Sitz. Der Arktisrat ist politisch lahmgelegt, seit die sieben westlichen Mitgliedsländer wegen des Ukraine-Krieges das achte und wichtigste, Russland nämlich, boykottieren. Ein Einblick in die Arbeitsweise wurde mir trotzdem gewährt.In der Lobby standen noch die Schalen mit Keksen von der Weihnachtsfeier, und im Besprechungsraum saßen mir zwei der sechzehn Mitarbeiterinnen gegenüber: eine Samin, ihr Volk lebt im nördlichen Teil Schwedens, in Norwegen und Finnland bis hin zu den Küsten der Barentssee, und eine Wepsin aus dem finno-ugrischen Volk. Beide arbeiteten für das hier ebenfalls untergebrachte Indigenen-Sekretariat IPS. Sie beschrieben es als „das einzige internationale Forum, wo indigene Menschen am selben Tisch wie die Außenminister sitzen“.Placeholder infobox-1Lachender LawrowDie sieben westlichen Mitgliedsstaaten hatten die Zusammenarbeit ohne Russland – auf der zweithöchsten Ebene der sogenannten Arktis-Botschafter – im Juni „begrenzt wieder aufgenommen“. Quantitativ bezog sich das auf 70 bis 85 Prozent der Projekte. Im Powerpoint erinnerte ein lachender Sergej Lawrow daran, dass ausgerechnet Russland bis Mai 2023 den alle zwei Jahre rotierenden Ratsvorsitz innehat. Ich fragte: „Ist der Vorsitz allein zu Hause?“ Sie lachten.Die Arktis wird unterschiedlich definiert, Finnland etwa betrachtet sich zur Gänze als arktisches Land, der Arktisrat selbst nimmt den Polarkreis als Grenze. Wir breiteten eine Arktis-Karte aus und blickten von oben auf die Welt, auf den ersten Blick war zu sehen, dass Island fast überhaupt keinen Anteil an der Arktis hat, Dänemark nur durch Grönland, auch die Vereinigten Staaten nur durch einen Streifen von Alaska. Der Löwenanteil der arktischen Landmasse und der vier Millionen zählenden Arktis-Bevölkerung entfällt auf die Russische Föderation. Die, so hörte ich, betreibe nun viele ihrer Arktis-Projekte allein.Am 21. Januar will das Sekretariat sein Zehn-Jahres-Jubiläum feiern. Drei der dafür in Betracht kommenden Mitarbeiterinnen sind Russinnen. Da sie für den zur Hälfte von Norwegen finanzierten Arktisrat arbeiten und nicht für ihr Land, änderte der Krieg ihre Stellung formal nicht. 2013 hatten die Russen alle acht Arktis-Botschafter auf den Nordpol eingeladen, und noch im November 2021 hatten sie die Westler in der nordsibirischen Stadt Salechard mit „russischer Gastfreundschaft“ überwältigt. Eine aus dem Sekretariat sagte: „Du kannst zwar auf einer Dinner Party damit angeben, dass du auf dem Nordpol gewesen bist, das macht deine Arbeit aber nicht besser. Es ist wichtiger, dort hinzugehen, wo Menschen leben.“Auf der WasserrutscheAls ich durch die Lobby hinausging, saßen die aus sieben der acht Arktis-Länder stammenden Arktisrat-Mitarbeiterinnen Laptop- und Lebkuchen-selig bei ihrem montagmorgendlichen Get-together eng gedrängt, harmonisch und jung. Eine fand die zweimonatige Periode ohne Sonne „cosy“, eine andere behauptete, Nordnorwegen und Nordschweden bildeten mit ihrer Wasserkraft ein quasi autarkes und preisvergünstigtes Energiesystem. Sie müssten daher im Unterschied zu anderen Teilen Europas überhaupt keine Energie sparen. Eine mitteleuropäische Politikerin, die in der OSZE auch für die Arktis zuständig ist, fragte mich per SMS nach dem Zweck meiner Reise: „Permafrostböden, Schmelzen des Eises schafft neue Kriegs- und Handelsrouten?“ Nichts dergleichen hatte ich gefragt. Da der Arktisrat politisch flachliegt, wurden ohnehin nur Fragen technischer Natur beantwortet.In der mittäglichen Abenddämmerung wanderte ich schließlich zum städtischen Hallenbad. Es lag auf einer Anhöhe der Tromsø-Insel, die von so vielen Tunnels durchzogen wird, dass dies sogar einen unterirdischen Kreisel hergibt.Das Tromsøbadet erwies sich als allumarmendes skandinavisches Wohlfahrts-Walhalla. Es war nicht teuer, dazu der Aufenthalt unbegrenzt, es gab mehrere Saunen, sieben Sprungtürme, einige Kletterwände sowie eine fortwährend sprudelnde Megarutsche. Behinderte wurden von der Aufsicht gesondert begleitet. Die meisten Becken waren auf Thermalbad-Temperaturen erwärmt. Andernorts schockierte mich eine norwegische Russin mit ihrer Tirade darüber, wie sie sich soeben am völlig unbeheizten Bahnhof der russischen Arktis-Metropole Murmansk „den Arsch abgefroren“ hatte. In dieser Hauptstadt der Arktis hier konnte man hingegen unbedeckt auf einer Holzpritsche dösen – und es war warm. Dann setzte ich mich noch in den heiß sprudelnden Freiluft-Panorama-Pool hinaus und betrachtete die dämmernde Arktis.