Zehn fette Jahre

Slowakei Wie die EU-Osterweiterung zu einem Experiment in Devínska Nová Ves ermunterte, das bald außer Kontrolle geriet
Ausgabe 19/2014

Am 1. Mai 2004 trat die Slowakei der Europäischen Union bei, kurz darauf zog ich aus Wien in dieses Land. „Warum?“, lautet die Frage, die ich in diesem Leben am häufigsten beantworten muss. „Das war ein Experiment“, erkläre ich geduldig, „ich wollte das für ein Jahr ausprobieren. Nun lebe ich aber schon zehn Jahre in Devínska Nová Ves – das Experiment ist entglitten.“

In der Regel wohne ich allein, einmal versuchte ich aber ein Experiment im Experiment – ich gründete eine WG. Zwei junge Arbeiterinnen eines Zulieferers beim örtlichen Volkswagenwerk zogen ein. Sie stellten Sonnenblendspiegel für Autos her. Netto verdienten sie 650 Euro im Monat. Ein großer Teil davon waren „Boni“, die zur Strafe gestrichen werden konnten. Mein kleiner Bruder, der ähnliche Schichtarbeit im angrenzenden österreichischen Bundesland Niederösterreich machte, verdiente seinerzeit 2,5-mal so viel. Meine Mitbewohnerinnen hatten keine Ahnung, wem ihre Fabrik gehörte, „wir produzieren für Deutschland“, sagten sie. Ihre Typen waren auch ständig da.

Am auffälligsten wandelte sich die Küche. Die Arbeiterinnen installierten ein Dreieck des Schreckens, bestehend aus Fritteuse, öltriefender Pfanne und Mikrowelle. Da sie in verschiedenen Schichten arbeiteten, schlief immer irgendjemand, und irgendjemand hielt immer das Panier-Frittier-Kontinuum am Brutzeln. Es ging rasend schnell. Ich lag auf meinem Arbeitsdiwan, hörte nebenan eine Hand im Tiefkühlfach kramen. Kurz darauf zischte Öl auf, und schon wurde gespeist. Gemüse sah ich nie. Meine schöne Mitbewohnerin N. war Romni, was aber nie jemand ansprach, da sie keine Zigeuner ausstehen konnte. Sie ekelte sich vor Obst und stellte meine Obstschüssel oft weg.

Prestige eines Penners

Während mein kleiner Bruder in Österreich zu Autorennen pilgerte, bei denen es darum ging, wer den meisten Reifenabrieb in die Zuschauerreihen blies, war der Radius meiner Mitbewohnerinnen kleiner. Sie fuhren nirgendwo hin. Bis auf Brot, öffentlichen Verkehr und Getränke in der Gastwirtschaft hat die Slowakei ein ähnliches Preisniveau wie Österreich. Für so etwas wie eine Urlaubsreise hätten sich die VW-Arbeiterinnen das ganze Jahr über jede Annehmlichkeit verkneifen müssen.

So setzten sie sich in den zwei Wochen Zwangsurlaub, die Volkswagen jeden Sommer verhängt, vor die Glotze. Abends leerten sie manchmal eine Flasche Slibowitz oder Whisky, spülten mit klebrigen Limonaden von Lidl nach. Die Männer rülpsten in Gesellschaft, die Frauen lachten. Sie lasen nichts, schauten keine Nachrichten. Ich hörte aus der Küche D.s Klagereden über die Arbeit, mit der liturgisch wiederkehrenden Formel „alles schlecht“. N. beschimpfte ihren Freund, der maulte leise hinterher.

Zu mir, dem komischen Onkel aus Österreich, waren sie nett, um nicht zu sagen ehrerbietig. Die egalitäre WG-Tradition der 68er-Bewegung war ihnen fremd. Mein kleiner Bruder in Österreich drohte dem Vermieter, kaum eingezogen, mit dem Mieterschutz. Das würde dem neuen Proletariat der reindustrialisierten Werkbank Slowakei nicht einfallen. Die meisten Mieter werden von ihren Vermietern nicht einmal angemeldet. 90 Prozent der Slowaken wohnen im Eigentum, denn als Mieter genießt man das soziale Prestige eines Penners. Der slowakische Mieter strebt daher schon im Moment des Einzugs nach dem Auszug; es widerstrebt ihm, auch nur einen Fußvorleger für die „fremde“ Wohnung zu kaufen.

Der Freund meiner Mitbewohnerin D. löste das Dilemma, indem er sich auf Kredit eine Wohnung kaufte. Da ihm die Bank aber kein Geld für die Einrichtung der leeren Wohnung lieh, wohnte er anderswo zur Miete.

Schwarzer Mann

Nun, da mich die Jubiläumsreporter befragen kommen, muss ich darüber nachdenken, wie Europa in den zehn Jahren seit der Osterweiterung der EU zusammengewachsen ist. Mit den Mädels sprach ich nie über Europa; sie konnten sich ja nicht einmal merken, ob ich Österreicher oder Deutscher war. Als sie aus der Fabrik hinausgeschmissen wurden, teilte man ihnen das am Vortag mit. Sie wussten bis zuletzt nicht, dass sie für eine spanische Firma gearbeitet hatten.

Also ist Europa zusammengewachsen? Ja, die westlichen Handelsketten gönnen sich in der Slowakei solche Margen, dass man bei den Discountern an der Ostgrenze des 2,5-mal so reichen Österreichs Wahlen zum slowakischen Nationalrat abhalten könnte. Und ja, nach Auflösung der WG erfuhr ich, dass N.s beste Freundinnen ein lesbisches Paar bildeten; sie hatten sich auf meiner weißrussischen Edelmatratze „Vegas Modern“ geliebt. Da hat sich die slowakische Landarbeiterjugend klar europäisiert. Nein, die ökonomische Arbeitsteilung zwischen Ost und West lasse ich nicht als Zusammenwachsen gelten. Sie wurde unter der Bedingung durchgezogen, dass die Uhr von 150 Jahren Arbeiterbewegung zurückgedreht wurde.

Mein Experiment im Experiment endete traurig. Ich erfuhr, dass D. Zustände hatte, wenn sie allein in der Wohnung war. Sie pflegte das Küchenmesser zu nehmen und den schwarzen Mann zu suchen, etwa unter meinem Bett. Um der Eventualität vorzubeugen, dass sie den schwarzen Mann eines Nachts nicht unter, sondern in meinem Bett finden würde, bat ich sie auszuziehen. Ein paar Monate später trennte ich mich auch von N. Sie behielt noch eine Weile den Schlüssel und nutzte meine Abwesenheit, um mit Freunden Partys zu feiern. Hinterher stritt sie alles ab. Sie hatte sich aber verraten – die Obstschüssel war nicht an ihrem Platz.

Martin Leidenfrost schrieb zuletzt über das südukrainische Stepnogorsk Lesen Sie über die Osterweiterung der EU auch unsere Zeitgeschichte auf Seite 12

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