Im Osten Kasachstans, an der Grenze zur chinesischen Uiguren-Region Xinjiang, liegt der sogenannte Uigurische Landkreis. 58 Prozent der Einwohner sind ethnische Uiguren, 37.000 der etwa 225.000 Uiguren in Kasachstan. Der Bericht, den UN-Sonderberichterstatterin Michelle Bachelet an ihrem letzten Arbeitstag vorgestellt hatte, prangert Umerziehungslager und Unterdrückung von Uiguren in Xinjiang an, der UN-Menschenrechtsrat lehnte es aber im Oktober mit 19 zu 17 Stimmen ab, darüber auch nur zu debattieren. Ich wollte hören, was Uiguren im vergleichsweise freien Kasachstan sagen.
Die einzige Möglichkeit, mit Hotelübernachtung hinzukommen, war der Bäderbus nach „Tschundscha – Heiße Quellen“. Tschundscha ist der Hauptort des uigurischen Landkre
en Landkreises, von dort sind es noch weitere 50 Kilometer zu den Thermalbädern, die verstreut an einer Fernstraße durch eine menschenleere Wüste liegen. Der Bus fuhr etwa hundert Kilometer durch die üppig-grüne Almatiner Agglomeration, dann zweihundert Kilometer durch trockenes leeres Land. Der uigurische Landkreis Kasachstans hat eine 33-mal geringere Bevölkerungsdichte als Deutschland. Mein Bus zur Therme war der erste der Saison. Die fünfstündige Fahrt wurde von einer russischsprachigen Gouvernante moderiert. Sie las einzeln die Namen der Kurgäste vor, geordnet nach Namen der Thermalbäder und nach Zimmernummern; sie gratulierte zu Zimmern in Speisesaalnähe und gab bekannt, um welche Uhrzeit noch beide Frühstücksbreie verfügbar seien. Als der Asphalt rissig wurde, sagte sie: „Diese Straße ist so gut, weil wir direkt über die Landebahn einer ehemaligen Luftwaffenbasis fahren.“ Von hier hielten sowjetische Jets China seit den 1960er-Jahren in Schach. „Heute kommen leider 95 Prozent von dem, was wir kaufen, aus China“, ergänzte sie. Wir durchfuhren den Scharyn-Canyon. Er hatte in den Prospekten atemberaubender gewirkt.Ich landete in einem teuren Thermenhotel mit täuschend echten Plastikpalmen, frequentiert von schönen Jungfamilien der Almatiner Oberschicht. Dass die Balkone der Zimmer direkt an der zentralen Insel-Lounge-Welt der Thermalbecken lagen, ermöglichte vielfältige Blicke auf leicht bekleidete, entspannende Körper; das Sexverbotsschild erstaunte mich nicht. Usbekische Bauarbeiter mit lustigen Hütchen, die mehr verdienten als die größtenteils uigurischen Hotelangestellten, erneuerten mit einem leisen Gummihammer das Pflaster am Beckenrand.Am Abend ging ich raus, die wenigen Nachbarhäuser waren auch dem Thermaltourismus geweiht. Die Besitzerin zweier einfacher, auch von Usbeken renovierter, hinter hohen Wellblechzäunen verborgener Billigpensionen rannte gerade ihrem auf einem Dreirad ausbüxenden Söhnchen hinterher. Sie hatte ukrainische Wurzeln, tischte mir eine eigenwillige Erklärung des Ukrainekonflikts auf („die Ukraine ist eine Erfindung von Chruschtschow, erst er hat aus diesem russischen Gebiet einen eigenen Staat gemacht“), ihre persönliche Geschichte nahm ich ihr schon eher ab. Sie habe auch eine Pension bei Almaty besessen, die sei ihr aber von Männern aus dem Clan des Staatsgründers Nursultan Nasarbajew abgekauft worden – unter Androhung von Gewalt. Die europäische Bevölkerung habe in Kasachstan keine Perspektive, sagte sie. „Wir selbst halten uns einstweilen noch, versuchen, einfach nicht aufzufallen.“ Sie behauptete, dass die neue Aprikosenplantage nebenan ein chinesisches Investment sei und dass mein Thermalbad einem Uiguren per „Raid“ abgenommen worden sei. Die Investoren, welche die Anlage danach so aufwändig aufmotzten, seien Chinesen. Sie schien überzeugt, „die Chinesen wollen das Land hier anschließen. Sie gehen dabei sehr klug vor. Da ihnen ohnehin bald alles gehört, werden sie nicht mal groß schießen müssen“.Im uigurischen Obstgarten DardamtyAm späten Samstagabend stieg ich noch einmal ins Thermalbecken. Die kleinen Kinder waren schon im Bett, größere Jungs nutzten noch die Rutsche. Die europäische Bevölkerung – zwei russische Paare mit fotografisch scharfen Tattoos und obszönster russischer Mutterfluchsprache – begann sich hinter einer gegen Blicke abgeschirmten Terrasse am heißen Wasser anzufassen.Am Sonntagmorgen fuhr ich raus zu den Uiguren. Da der nächste Taxidienst 50 Kilometer entfernt war, heuerte ich den Sicherheitsmann des Thermalbads an, der seine Arbeitszeit angesichts eines Monatslohnes von 200 Dollar gern zum Dazuverdienen nutzte. Der Uigure von Ende 40 war früher Polizist gewesen. Auch dank ihrer hohen Geburtenrate gelten die Uiguren in Kasachstan als durchsetzungsstark, sind im Gegensatz zu anderen Minderheiten in den Rängen des Staates gut vertreten und stehen bei sporadischen kasachisch-uigurischen Schlägereien – typischerweise nach Autounfällen – ihren Mann. Der schwarz gekleidete Sicherheitsmann hatte zwei erwachsene Kinder, die „nebenan in der Stadt“ lebten (Alma-Ata, 300 Kilometer entfernt), dazu zwei kleine Nachkömmlinge, „die sind für mich, damit es nicht zu still wird im Haus“. Über die Herkunft der hiesigen Uiguren konnte er nichts sagen. „Mein Großvater floh aus China in die Sowjetunion, nachdem er einen grausamen chinesischen Beamten erschlagen hatte.“Wir fuhren 20 Kilometer aus der steinigen Ebene an den Fuß der Berge ins 1.500-Einwohner-Dorf Dardamty. Kurz vor dem Ort wurden die Grasbüschel fetter, Kuhherden weideten, seitlich lag der Friedhof mit merkwürdigen sandfarbenen Rundbauten. Ein Schwall frischen Gebirgswassers schoss durch ein pittoreskes Bachbett. Dardamty war ein einziger Obstgarten. Esel und Pferde zogen Leiterwagen.Der „Starost“, der gewählte Dorfälteste, empfing uns spontan in seinem selbstgebauten Haus. Allerorten waren Bleche aufgelegt, um Apfelspalten für den Winter zu trocknen, auch auf einer ausrangierten Wolga-Limousine. Starost Selmachon, 73 Jahre alt, pflückte mir in seinem sympathisch ungepflegten Großgarten drei Äpfel, zeigte mir seine drei Kühe und den betonierten Heuschuppen. In einem der dunklen, langgestreckten Zimmer wurde aufgetischt. Die saftige Kühle der Himbeeren machte süchtig.Umerziehungslager?Auch der Starost kam mir nicht mit der großuigurischen Theorie, wonach das Siebenstromland unter der Mittelalter-Dynastie der Karachiniden uigurisch dominiert gewesen wäre. Er sagte, im heute „halb uigurischen und halb kasachischen“ Dardamty hätten früher „nur ein paar uigurische Familien gelebt“. Er selbst war in China geboren, seine Familie aber in den 1950er-Jahren nach Dardamty zurückgekehrt. Er zweifelte auch die gängige Behauptung an, Uiguren seien gemeinhin gläubiger als Kasachen. „Im Ort haben wir nur einen Bärtigen, einen mit 80 Kühen“, sagte Selmachon, „aber nicht einmal seine eigene Frau geht verschleiert“. Im Haus hing eine gezeichnete Gebetsanleitung („um’s nicht zu vergessen“), zugleich prahlte Selmachon, er habe seinerzeit „mit drei Genossen zwölf Halbliterflaschen Wodka geleert“.Beide Männer waren nie in Xinjiang gewesen. Der Starost hatte es zweimal vor, schreckte dann aber zurück. Der „Ameisenhandel“ mit China, der vielen hier Arbeit gegeben habe, sei seit Chinas Covid-Abschottung tot. Wir sprachen über das Leid der Uiguren in China. Jedenfalls glaubte ich, wir würden darüber sprechen. Beide erzählten bewegt von der nahen Halbmillionenstadt Guldscha, vom Hunger eingesperrter Wohnblockbewohner, denen man „zwei Äpfel und zwei Gurken hochwirft, und das ist alles“. Der Starost hatte eine Spendenaktion gestartet, aber abgebrochen. Ich begriff nur langsam, wovon die beiden sprachen – vom Corona-Lockdown im China-Style, der über Guldscha verhängt worden war.An die Umerziehungslager hingegen konnten sie nicht glauben. Das sei „eine Provokation“ des Westens, schimpfte der Sicherheitsmann, „die Chinesen sind doch nicht doof“. Nachdenklich nickend, stimmte ihm der Starost zu, auch er hielt die Vorwürfe für „übertrieben“. Die beiden stritten zwar ab, dass mein Thermalbad in chinesischer Hand sei, bestätigten aber gewaltige Investitionen, etwa in eine Wolfram-Mine oder in eine Gastrasse, welche Chinesen geradezu „über Nacht!“ hingelegt hätten. Vom digitalen Social-Credit-Totalitarismus des Pekinger Regimes hatten sie nichts gehört, von Xi Jinpings Antikorruptionskampagne sehr wohl. Ich weiß zu wenig, um die Stimmung in diesem uigurischen Landkreis Kasachstans einzuschätzen. Die beiden Uiguren bewunderten China.Placeholder infobox-1
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