Das große Schachern

Energiewende Die Gegner des Atomaustiegs instrumentalisieren die Frage, wie viele neue Stromleitungen gebraucht werden

Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler wusste es schon im Januar ganz genau: „4.500 Kilometer neue Netze“ brauche Deutschland, sagte der FDP-Vorsitzende beim Dreikönigstreffen in Stuttgart. Es war Röslers Wachstumsrede, in der er „Fortschrittsverweigerer, Pessimisten und Gutmenschen“ geißelte – und die Gegner des Stromnetzausbaus. 4.500 Kilometer sind eine bemerkenswert exakte Zahl angesichts der Tatsache, dass die Bundesnetzagentur damals noch dabei war, die Fakten zu ermitteln. Erst jetzt haben die Übertragungsnetzbetreiber ihr Szenario vorgestellt: 3.800 Kilometer sollen es nun sein, immerhin 15 Prozent weniger.

Auch an dieser Zahl kann man zweifeln. Im Moment dient sie – ähnlich wie die 4.500 Kilometer, die Rösler aus zwei umstrittenen Gutachten der Deutschen Energie-Agentur hat – vor allem dazu, zu polemisieren. Das Feindbild der Grünen als „Dagegenpartei“ lässt sich damit bestens bedienen und die Bürgerinitiativen gegen den Leitungsausbau abwatschen. Profitieren können davon vor allem die Gegner der Energiewende, bevorzugt im Wirtschaftsflügel der Union und in der FDP zu Hause.

Erdrückende Kosten

Die kaum bekehrten Freunde der Atomkraft warnen nun vor dem schleppenden Netzausbau, hohen Kosten und einem möglichen Scheitern der Energiewende – und präsentieren als Lösung verlängerte AKW-Laufzeiten oder zumindest neue Kohlekraftwerke. Je höher die Kilometerzahlen für den Netzausbau, desto auswegloser das Szenario und desto erdrückender die Kosten. Nötig sind nach Schätzung der Netzbetreiber bis 2022 rund 20 Milliarden Euro. Dazu kommen weitere Mittel für den Anschluss der Offshore-Windkraftanlagen und den Ausbau der lokalen Verteilnetze.

Doch hängt der tatsächliche Bedarf noch von einigen Unbekannten ab. Die Übertragungsnetzbetreiber hatten bei ihrer Bedarfsprognose von 3.800 Kilometern nicht den Auftrag, einen möglichst netzsparenden Ausbau der erneuerbaren Energien zu prüfen. Zudem sind eine Reihe von Voraussetzungen der Energiewende noch nicht geklärt. Dazu zählen etwa die möglichen Standorte neuer Gaskraftwerke. Umweltverbände fordern, sie so zu planen, dass weniger Netzkilometer gebaut werden müssen.

Klar ist aber auch: Ohne zusätzliche Leitungen zum Stromtransport geht es nicht. Im Norden und Osten ist ein hoher Anteil an Windkraft konzentriert, weit mehr, als dort verbraucht werden kann. Fotovoltaikanlagen sind zum Renner bei süddeutschen Einfamilienhausbesitzern und Landwirten geworden. Die Zentren des Stromverbrauchs sind aber vor allem im Süden und Westen wie auch in den Städten.

Es darf geplant werden

Diese Verteilung ist einerseits eine Folge davon, dass im Norden mehr Wind weht und im Süden die Sonneneinstrahlung höher ist. Doch ist sie auch Konsequenz jener seltsamen Mischung aus Anarchie und Planung, die die deutsche Energiewende mit sich gebracht hat. Gebaut werden dürfen die Anlagen auch an den abgelegensten Orten. Planung findet erst anschließend auf der Netzebene statt.

Historisch war dies unumgänglich. Anders als durch die Verpflichtung zum Anschluss von Erneuerbaren-Anlagen, egal wo sie errichtet wurden, wäre das Monopol der Stromkonzerne wohl nicht zu knacken gewesen. Aber jetzt, wo die Erneuerbaren sich anschicken, die Hälfte der Stromversorgung zu sichern? Natürlich könnte jetzt mehr rationale Planung einsetzen.

Zunächst müsste analysiert werden, wie viel Netzausbau eingespart wird, wenn Windkraft vermehrt im Süden statt im Norden gebaut wird und Solaranlagen künftig auf städtische Dächer statt ländliche Scheunen montiert werden. Steuern könnte man den Ausbau dann über deutliche Zu- und Abschläge bei der Förderung über das Erneuerbare-Energien-Gesetz.

Provinzfürsten im Goldrausch

Fernab der Verbrauchszentren planen derzeit nord- und ostdeutsche Bundesländer den massiven Bau von Windkraftanlagen an Land. Das jetzige Erneuerbare-Energien-Gesetz fördert Exzesse des Föderalismus. Ökoenergie wird zum Exportschlager für strukturschwache Regionen: Schleswig-Holstein etwa hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2020 acht bis zehn Prozent des deutschen Strombedarfs zu decken. Die Windenergieleistung an Land soll dazu bis 2015 auf 9.000 Megawatt verdreifacht werden. Kommunen hoffen auf höhere Gewerbesteuereinnahmen durch die Windparks.

Auch solch regionaler Ehrgeiz schraubt den Netzbedarf nach oben. Und die Ökostrom-Befürworter tun sich schwer, dagegen zu argumentieren. Die Bundestags-Grünen etwa weisen Forderungen nach einer Beschränkung der Förderung je nach Standort strikt zurück: „Wer zu erneuerbaren Energien steht, steht zum Ausbau der Erneuerbaren in ganz Deutschland“, meint ihre Energieexpertin Ingrid Nestle.

Anders als von Rösler behauptet, sind die Grünen und Umweltverbände aber kein großes Hindernis für den Netzausbau. Im Gegenteil: Sie glauben, dass viele Bürger zustimmen, wenn klar ist, dass es tatsächlich um mehr Erneuerbare geht und nicht um Kohlestrom. Schwierig würden Werbeaktionen allerdings, wenn die Energiewende nur deshalb teurer würde, weil überambitionierte Provinzfürsten sich in einen Goldrausch hineinsteigern. Rösler will seinerseits, um Kapital zusammenzubekommen, auch Großanleger wie Versicherungskonzerne und Fonds an den Netzen verdienen lassen. „Ich weiß aus Gesprächen, dass diese ein großes Interesse haben, in die Energie-Infrastruktur zu investieren“, sagte der FDP-Chef zuletzt. Billiger wird es damit sicher nicht.

Martin Reeh ist Umweltjournalist in Berlin

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