Unbegrenztes Wachstum

Globalisiserungskritik Attac verdoppelt seine Mitgliederzahl und will sich auf Gesundheitspolitik konzentrieren ...

Attac verdoppelt seine Mitgliederzahl und will sich auf Gesundheitspolitik konzentrieren

Manchmal erscheint Attac als eine Mogelpackung, auf die sympathisierende Publizisten "spektakuläre Protestbewegung" (so die Werbung für das neu erschienene Attac-Buch von Matthias Greffrath) geschrieben haben - und dann doch nur die Überbleibsel der Bewegungslinken drinstecken, geschlagen und unbeholfen. Zum Beispiel beim ersten Treffen der bundesweiten Attac-Gruppe, die sich mit Arbeitsmarkt- und Erwerbslosenpolitik befassen soll. Überm Tagungstisch im Hannoveraner Industriepfarramt hängt ein Kruzifix, vorm Fenster Gardinen, ein Gemeindemitarbeiter reicht Schnittchen und Kaffee. Das Tempo der Beratungen passt sich der gemütlichen Wochenendstimmung an. Seit dem Beschluss zur Gründung der Arbeitsgruppe sind vier Monate vergangen, und nun treibt die 40 Anwesenden vor allem eine Frage um: Wie soll die AG heißen? Gegen den Vorschlag "Arbeit und Menschenwürde" erhebt sich lautstarker Protest. Eineinhalb Stunden wird debattiert und abgestimmt, dann findet sich eine Mehrheit für den Namen "Arbeit in Würde ist möglich". Zu Beratungen über Aktionen reicht die Zeit nicht mehr. Das nächste Treffen soll zwei Monate später stattfinden.

Spätestens seit dem Berliner Kongress im Oktober wird Attac Deutschland förmlich überrannt - die Mitgliederzahl verdoppelte sich auf über 5.000. Attac ist wohl so etwas wie eine französische Entwicklungshilfe an die deutsche Linke, deren Kraft nicht ausreichte, um eine globalisierungskritische Bewegung ohne Hilfe von außen ins Leben zu rufen. Nun finden sich unter neuem Label die alten Probleme. Beim Treffen in Hannover etwa kamen viele Teilnehmer aus Erwerbslosengruppen, die jahrelang im Schatten politischer Bedeutungslosigkeit vor sich hin werkelten und dabei kein Gespür für Zeithorizonte entwickelten.

Dass den neuen sozialen Bewegungen der Sinn für politisches Handeln nicht völlig abhanden gekommen ist, beweist vor allem der bundesweite Attac-Koordinierungskreis. Die 15 Vertreter setzen sich aus Nichtregierungsorganisationen wie WEED und Südwind, Attac-Regionalgruppen und der Zentrale in Verden zusammen. Bisher haben sie erstaunlich souverän und pragmatisch die anliegenden Fragen geklärt. Eintritt von SPD- und Grünen-Verbänden? Ja, aber nicht über die Ortsvereinsebene hinaus. Mitarbeit von trotzkistischen Sekten wie Linksruck? Ja, so lange sie die Gruppen nicht dominieren. Ist Attac ein Netzwerk, Nichtregierungsorganisation oder Bewegung? Irgend etwas dazwischen. Was die zeitlichen Perspektiven betrifft, hat man im Koordinierungskreis eine genaue Vorstellung: Ein ein- bis zweijähriges "window of opportunity", so das Ergebnis einer Klausurtagung, gibt den Zeitrahmen, um Globalisierungskritik in Deutschland zum Thema zu machen.

Mit den Aktivitäten dieses Frühjahrs verabschiedet sich Attac endgültig vom Image einer Ein-Punkt-Gruppierung für die Tobin-Steuer auf Devisenspekulationen. Mehrere Arbeitsgruppen gegen die Privatisierung sozialer Sicherungssysteme haben sich gebildet. Nicht alle sind so schwerfällig wie die Erwerbslosen-AG: Schwerpunkt der diesjährigen Attac-Aktivitäten ist die Kampagne "Gesundheit ist keine Ware", die mit einer bundesweiten Konferenz am 20. April in Heidelberg startet. Ein Aktionstag im Juni und eine Abschlusskundgebung in Köln eine Woche vor der Bundestagswahl sind in Vorbereitung. Mit dem schwierigen Thema Gesundheitspolitik, das in Deutschland bisher nicht zu großen außerparlamentarischen Mobilisierungen taugte, geht Attac ein gewisses Risiko ein. Auch wenn sich auf ersten regionalen Veranstaltungen die Teilnehmer drängelten, wagt man bei Attac keine Erfolgsprognosen. "Niemand kann vorhersagen, welche Themen die politische Agenda im Herbst bestimmen", sagt Koordinator Werner Rätz unter Verweis auf die Situation im Irak und Israel. Im günstigsten Fall seien aber mehrere 10.000 Teilnehmer möglich.

Auch bei inhaltlichen Fragen hat sich der Koordinierungskreis einem pragmatischen Vorgehen verschrieben: "Worüber wir uns nicht einigen, lassen wir offen", so Rätz - zumindest so lange, bis die Fragen von außen auf die Tagesordnung gesetzt werden. Oft scheitern Grundsatzdebatten schlicht am Zeitmangel. Die Attac-Spitze wirkt daher mitunter wenig souverän: Mitte März etwa, als Attac ein neues Buch vorstellte, hatte man als Bewegungssachverständigen Dieter Rucht vom Berliner Wissenschaftszentrum (WZB) herbeigeholt. Der referierte über die Defizite der Globalisierungskritiker. "Die Strategiefrage ist nicht beantwortet: Setzt Attac auf Aufklärung, Gremien- und Lobbyarbeit oder auf Straßenprotest?" Ebenso müsse geklärt werden, ob man Widerstand im oder gegen den Kapitalismus wolle. "Ich vermute, dass die Fraktionierungen, die Linke und Linksliberale seit dem vergangenen Jahrhundert gespalten haben, sich auch bei Attac fortsetzen werden", schloss Rucht. Attac-Vertreterin Lena Bröckl zog sich bei der Frage, was sie von Ruchts Thesen halte, nach einer Pause angestrengten Nachdenkens auf Allgemeinplätze zurück: "Attac kann nur im Konsens bestehen."

Doch noch ist Attac Deutschland eine reine "Negativkoalition" (Rucht) gegen Neoliberalismus. Wie lange der Konsens bei der Frage nach Alternativen hält, bleibt offen. Allein innerhalb des internationalen Reformerspektrums kristallisieren sich zwei unterschiedliche Lösungsansätze heraus. Attac Frankreich befürwortete im jüngst veröffentlichten "Manifest 2002" eine Demokratisierung internationaler Institutionen wie der Welthandelsorganisation (WTO). Walden Bello von Focus on the Global South, einer einflussreichen Nichtregierungsorgansiation in Thailand, plädiert dagegen für "Deglobalisation": den Aufbau und die Stärkung regionaler Institutionen zur Marktregulation wie der ASEAN in Südostasien oder des Mercosur in Lateinamerika. Die WTO will Bello nicht reformieren, sondern entmachten. Die Dominanz des Nordens in globalen ökonomischen Institutionen soll so gebrochen werden. Eine Stellungnahme von Attac Deutschland zu diesem Konflikt steht aus.

Das liegt nicht nur an der Überlastung der Aktivisten durch aktuelle Projekte. In gewisser Hinsicht teilt Attac das Schicksal der frühen Grünen. Die Ökopartei war eine Konsequenz der Fünf-Prozent-Klausel, die in einer Organisation zusammenwachsen ließ, was nicht zusammengehörte: Fundis und Realos, Gewerkschafter und Wirtschaftsliberale. Außerhalb wartete die politische Bedeutungslosigkeit. Strategische Fragen wurden daher nur entschieden, wenn sie aufgrund äußerer Ereignisse wie Koalitionsangebote nicht mehr auf die lange Bank geschoben werden konnten.

Heute ist Attac für Globalisierungskritiker in Deutschland die einzige Anlaufstelle von politischer Relevanz - anders als in Frankreich oder Italien, wo Attac nur einen wichtigen Teil der Bewegung ausmacht. Doch eine inhaltliche Zuspitzung und der Verzicht auf Selbstzerfleischungskämpfe fallen leichter, wo sich politischer Pluralismus nicht in einer einzigen Organisation widerspiegeln muss, sondern mehrere Gruppen mit unterschiedlichen Zielen zur Verfügung stehen. Bleibt Attac allein auf weiter Flur, könnte sich der Mitgliederansturm noch als Bumerang erweisen.

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