Mehr als eine Maschine

Erinnern Die 1977 in Mogadischu von der GSG 9 gestürmte Landshut ist zu haben. Sie sollte ein Gedenkort des Deutschen Herbstes werden. Ein Plädoyer
Ausgabe 06/2017

Käufer gesucht: Das bekannteste Flugzeug in der Geschichte der Bundesrepublik, die 1977 nach Mogadischu entführte Lufthansa-Maschine Landshut, kommt im März als Teil einer Konkursmasse unter den Hammer. Die GSG 9 wünscht sich das sechs Meter hohe Leitwerk der Boeing 737 als Hirschgeweih für eine Kaserne. Das Haus der Geschichte in Bonn lauert auf die Tür, die bei der Befreiungsaktion am 18. Oktober 1977 nicht aufgegangen ist. Der Rest der Maschine soll in die Schrottpresse. Mit der Flugzeugfledderei wäre die Chance auf einen Erinnerungsort Landshut vertan.

Äußerlich ist sie ein Haufen Schrott, Altmetall, das auf einem abseitigen Flugzeugfriedhof in Fortaleza nahe der brasilianischen Nordküste vor sich hin gammelt. Seit einigen Jahren hebt die Boeing, die bis 1985 im Dienst der Deutschen Lufthansa stand und danach als Frachtmaschine für brasilianische Fluglinien Dienst tat, wegen eines kapitalen Motorschadens nicht mehr ab. Flugzeugmonteure haben sich des einen oder anderen Teils bedient, um es in einer anderen Boeing zu verwenden. Dennoch bleibt dieses Flugzeug für alle Zeit die Landshut, der Ort des Showdowns im Terror-Jahr 1977.

„Wo sind die Schweine?“

1977. Die zweite Generation der linksterroristischen „Rote Armee Fraktion“ will die erste mit ihrem Kommando Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe aus der Gefängnishaft freipressen. Ein Generalbundesanwalt und seine Begleiter, ein Dresdner-Bank-Chef und mehrere Polizisten werden ermordet, ein Arbeitgeberpräsident entführt. Die vier palästinensischen Kidnapper eines Linienfluges, der 86 Passagiere und fünf Besatzungsmitglieder von Palma de Mallorca nach Frankfurt bringen soll, unterstützen die Forderungen der Schleyer-Entführer. Sie zwingen die Bundesregierung zu finalen Entscheidungen. Die Landshut fliegt über Rom, Larnaka nach Dubai, Aden – und landet in Mogadischu.

Am Horn von Afrika erfolgt der Zugriff: Die von Ulrich Wegener kommandierte Grenzschutzgruppe 9 der Bundespolizei, die zufällig genau auf dieser Maschine geübt hatte, sprengt die Flugzeugtüren auf und stürmt auf die Entführer zu. Der zweite Mann in der Truppe, Dieter Fox, geht voran mit dem legendären Satz: „Köpfe runter, wo sind die Schweine?“ Die Männer geben einige hundert Schuss ab, drei Terroristen werden von Kugeln durchsiebt, eine Vierte schwer verletzt. Wie durch ein Wunder erleiden die Geiseln nur leichte Verletzungen.

Doch „Mogadischu“ ist nicht nur eine Helden-, sondern auch eine Opfergeschichte. In Aden lässt sich Kapitän Jürgen Schumann, nachdem er mehrfach vom Führer des Terrorkommandos verwarnt worden ist, auf eine riskante Situation ein. Der Kommandoführer macht kurzen Prozess. Er erschießt ihn vor aller Augen. Geiseln müssen seine Leiche in einen Schrank stellen. In Mogadischu wird der tote Kapitän über eine Rutsche abgelassen.

Die 86 Geiseln und jetzt noch vier Besatzungsmitglieder verbringen die 106 Stunden ihrer Entführung unter unmenschlichen körperlichen und seelischen Bedingungen, bei sengender Hitze auf dem Rollfeld von Dubai und Mogadischu, gefesselt und in beständiger Todesangst. Kurz vor der geplanten Sprengung werden sie mit Alkohol übergossen, „damit ihr besser brennt“. Die befreiten Geiseln erleiden in der Landshut ein lebenslanges Trauma, das heute als posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wird. Viele finden nie wieder in den Alltag zurück. Manche brauchen bis heute Valium, um in ein Flugzeug zu steigen.

Nach ihrer Befreiung werden sie zu Versuchskaninchen eines von der Bundesregierung bezahlten Psychotherapeuten. Andreas Ploeger hatte schon die eingeschlossenen Bergleute von Lengede besucht. Nun führt er stundenlang die quälende Bilder hervorkehrenden Interviews mit den Landshut-Geiseln. Sie werden erneut traumatisiert.

Politisch gilt die Befreiung der Landshut am 18. Oktober 1977 als zweiter Gründungsakt der Bundesrepublik, als politisches „Wunder von Bern“. Nie vorher und nie mehr danach stehen die Deutschen als Angehörige eines demokratischen Gemeinwesens so eng zusammen, nie vorher und nie mehr danach sind sie so stolz auf die mutigen Landsleute!

International stößt „Mogadischu“ der kleinen Bundesrepublik Tore auf: Die Palästinensische Befreiungsorganisation von Jassir Arafat war an der Entführung nicht beteiligt, jetzt kann Helmut Schmidt fünf Jahre nach dem Olympia-Attentat seinen Frieden mit ihm machen. Als ihm der somalische Präsident Siad Barre die Terroristin Souhaila Andrawes als Insassin einer deutschen Haftanstalt anbietet, lehnt Schmidt ab. Die Terroristin wird auf Jahre unbehelligt bleiben.

Nach „Mogadischu“ baut Ulrich Wegener eine vergleichbare Elite-Einheit in Saudi-Arabien auf. Schmidt kann plötzlich Leopard-Panzer nach Saudi-Arabien verkaufen. Im arabischen Fernsehen tritt er für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser ein, was ihn für den israelischen Premierminister Menachem Begin zur Hassfigur macht. Der Bundeskanzler mit einem jüdischen Großvater wird in seiner Amtszeit Israel nicht betreten.

Alles das beginnt in Mogadischu und in der Landshut. Ich habe 2013 dem Leiter des Auto & Technik Museums Sinsheim, Hermann Layher, vorgeschlagen, die Landshut als eine Ikone der deutschen Terrorismusbekämpfung nach Deutschland zurückzuholen. Die Sinsheimer haben schon andere Flugzeuge von weit her bringen lassen, etwa eine „Concorde“. Hermann Layher zeigt starkes Interesse und schaltet die Wiener Firma „Skyhawk“ zur Prüfung der Identität der Maschine ein. Ergebnis: In Fortaleza steht tatsächlich die frühere Landshut!

Es gibt bereits Preisverhandlungen zwischen „Skyhawk“ und den Brasilianern, Hermann Layher kauft in Sinsheim ein Grundstück, um sie mit gutem Grund nicht neben Maseratis und Traktoren zu stellen, doch seine Schwester durchkreuzt seinen Plan. Die Unternehmerin hat nicht Benzin, sondern Business im Blut. Luise Layher fürchtet auch den Vorwurf politischer Leichenfledderei.

Dauerausstellung im Rumpf

Reden wir über Geld. Das reiche Deutschland kann sich „Erinnerungsorte“ nicht nur leisten, es schafft diese Orte auch. Im September 2016 kündigt der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier den Kauf des kalifornischen Hauses von Thomas Mann durch die Bundesregierung an. Der Preis soll bei 13 Millionen Euro liegen. Wie billig ist dagegen die Landshut. Die Wiener Firma beziffert die Kosten für den Kauf, die Zerlegung und den Transport per Schiff nach Deutschland auf 625.000 Euro. Wenn die Lufthansa ihre Azubis an die ganze Maschine lässt, blieben noch zwei Kostenblöcke: die Dauerausstellung im Rumpf und das Dokumentationszentrum.

Dieser Aufwand erscheint läppisch gegenüber der seinerzeit 100 Millionen Mark, die Somalia für die Zustimmung zur GSG-9-Aktion erhalten hat. Helmut Schmidt persönlich vermittelt dem somalischen Staatspräsidenten Siad Barre Waffen aus Ägypten, wo damals sein Freund Anwar as-Sadat regiert.

Am Thomas-Mann-Haus im fernen Kalifornien werden Wissenschaftler und Thomas-Mann-Verehrer viel Freude haben, von einem Erinnerungsort Landshut als einer „Außenstelle“ des Bonner Hauses der Geschichte – vielleicht ausgelagert auf das Gelände des Hamburg Airport „Helmut Schmidt“? – dagegen Deutsche aller Art. Hamburg deshalb, weil der Namensgeber als Bundeskanzler den Sturm der Maschine befahl. Helmut Schmidt wäre bei hohen Verlusten in der Landshut noch in derselben Nacht zurückgetreten. Für diesen Fall war auch die Auflösung der GSG 9 beschlossene Sache.

Ohne Entschädigung

Ein Erinnerungsort Landshut wäre ein großer Schritt. Reife Demokratien wie Frankreich zelebrieren ihre Opferkultur – siehe ihre Trauerarbeit mit den Opfern nach dem Germanwings-Absturz. Bundesregierungen verweigern sie. Das Haus der Geschichte Bonn macht mit einem Millionenetat Museumsdidaktik der 70er Jahre. Das Barett und die Pistole von Ulrich Wegener, jetzt eine Tür der Landshut. Eine gelingende Erinnerungskultur braucht Orte. Opfer brauchen für ihre Trauerarbeit Orte – und nicht Flugzeugtüren. „Dass solche Orte für Opfer frei zugänglich und gut erreichbar sind, ist ungemein wichtig“, sagt die Bundesgeschäftsführerin des Weißen Rings, des wichtigsten deutschen Opferhilfevereins, Bianca Biwer. Sie tritt für eine Rückholung der ganzen Landshut nach Deutschland ein.

GSG 9 und Deutsche Lufthansa würden diese Möglichkeiten mit ihrem Scoop unmöglich machen. Das Gelände der GSG 9 in St. Augustin ist mit Panzersperren gesichert, auch vor denen, die in der Maschine ihr heiles Leben zurücklassen mussten. Noch heute fliegen ehemalige Geiseln jedes Jahr gemeinsam nach Mallorca, wo sie den letzten unbeschwerten Abend dieses Lebens verbracht haben.

Immer neu muss bei der GSG 9 der Geist von „Mogadischu“ beschworen werden. Im Gästezimmer von Kommandeur Jerome Fuchs hängt ein schlechtes Gemälde der Aktion „Feuerzauber“. Für die Deutsche Lufthansa bleibt die Entführung ein Trauma, auf das sie bis heute reagiert, als habe es sich um einen Betriebsunfall gehandelt. Nach „Mogadischu“ schwärzt die Chefstewardess auf dem Flug, Hannelore Piegler, die junge Kollegin Gabriele von Lutzau wegen Verstoß gegen die Vorschriften an – weil sie verzweifelte Passagiere in den Arm nahm. Ohne von Lutzau wären viele Geiseln im Flugzeug durchgedreht. Bis auf drei Ausnahmen zahlt die Lufthansa keine Entschädigung an die befreiten Geiseln. Sie hilft ihnen auch nicht in ihrem verzweifelten Bemühen um Schmerzensgeld oder eines Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz. Vielleicht ist, wenn diese Zeilen geschrieben sind, die Landshut schon durch die Elitetruppe der brasilianischen Militärpolizei, die BOPE, ein zweites Mal gestürmt und entschweißt? Die GSG9 arbeitet für ihren Plan mit dieser Elitetruppe zusammen. Zum 40. Jahrestag im Oktober, wenn das Hirschgeweih übergeben wird, stellt sie außerdem die Landshut-Befreiung vor ausgewählten Gästen nach. Köpfe runter, wo sind die Schweine? Und auch das Haus der Geschichte der Bundesrepubik Deutschland wird seine Neuerwerbung, die Flugzeugtür, feiern.

Die Nazizeit ist die Lieblingszeit der deutschen Staatshistoriker, weil sie keinen politischen Streit auslöst. Für einen Erinnerungsort Landshut müssten sie werben und kämpfen. Da legt man sich lieber nicht mit der Bundespolizei und mit der Lufthansa an. Aber wie viele ehemalige Thomas-Mann-Häuser braucht es noch auf Kosten jüngerer, ebenfalls wichtiger Erinnerungsorte? Kein Flugzeug im Museum, sondern ein Flugzeug als Museum.

Seit kurzem hat dieses Land einen neuen Bundesaußenminister. Der Sozialdemokrat Sigmar Gabriel kann sein Engagement für einen Erinnerungsort Landshut damit begründen, dass ein sozialdemokratischer Bundeskanzler, Helmut Schmidt, zum „Helden von Mogadischu“ wurde. Sigmar Gabriels Partei ist nicht reich an Köpfen, auf die sie für alle Zeit stolz sein kann. Die Bundesrepublik ist nicht reich an Symbolen ihrer nationalen Identität. Die technisch schrottreife, aber vollständige frühere Lufthansa-Maschine Landshut, auf deren Gashebeln der sterbende Führer des Terrorkommandos zu liegen kam, gehört dazu.

Martin Rupps, Zeithistoriker und Journalist, ist Autor von Die Überlebenden von Mogadischu

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