Allein im Atlantik

Robinsonade Das Aussteigen in Zeiten von Twitter bringt neue Anforderungen und Probleme mit sich
Ausgabe 28/2014

Die Koffer sind gepackt, der Urlaub naht. Massenhaft erträumen wir uns gerade wieder eine kurze Auszeit aus dem Hamsterrad, das sich Alltag nennt. Auch der Schotte Nick Hancock. Er verbrachte die vergangenen 40 Tage auf einem einsamen Felsen im Nordatlantik, 418 Kilometer von der Zivilisation entfernt. Zehn Tage will er noch ausharren und damit den Inselrekord knacken. Es scheint, als ob Hancock uns die moderne Robinsonade vorlebte. Tatsächlich zeigt seine Reise aber, dass der Leistungsgedanke längst auch über das Aussteigertum regiert.

Hancock erlebt auf Rockall ohne Frage ein Abenteuer. Er beobachtet Sturmtaucher und Schweinswale. Bei einem Unwetter klatschten die Wellen so hoch, dass sein Wohncontainer wackelte. Wir wissen das aus der Daily Mail. Sie berichtet auch, dass bei dem Sturm Hancocks Eimer weggetrieben ist, in den er seine Notdurft verrichtete. Das Boulevardblatt nennt den 39-Jährigen den „einsamsten Menschen auf dem Planeten“ – und schreibt, wie es ihn am Satellitentelefon erreichte. Merke: Auch die einsamsten Aussteiger sind heute jederzeit für die Medien erreichbar.

Über seinen Twitter-Kanal schickt der Abenteurer hin und wieder Selfies in die Welt: Hancock vor Felsen oder Wellen. Noch wartet die Welt auf das erste Bild seines vakuumverpackten Abendbrots. Auch Essensfotos von Freunden, aus dem Urlaub gepostet, werden wir in den nächsten Wochen bei Facebook wohl noch einige sehen. Wer den Alltag hinter sich lässt, möchte halt in gewisser Regelmäßigkeit mitteilen, wie konsequent er dies gerade macht, was das Unternehmen ad absurdum führt.

In einem Blog berichtet Hancock über seine Tage. Viel gibt es auf dem 25 mal 22 Meter großen Felsen nicht zu tun. Wie es sich für einen Trip auf eine einsame Insel gehört, hat er daher Lektüre eingepackt, darunter Tolstois Krieg und Frieden. Selbst auf Rockall findet sich aber offenbar keine Ruhe für einen 1.600-Seiten-Wälzer. Mit Tolstoi habe er noch nicht angefangen, ließ Hancock jedenfalls wissen. Er hat ja auch noch die Autobiografie von Ice-T dabei.

Urlaub ist Zeit für Muße, so das Ideal. Gleichzeitig tun nicht nur Einsiedler wie Hancock, sondern auch viele Backpacker alles dafür, diese Wochen zu optimieren wie den Rest des Jahres. Man muss ja nicht gleich einen Weltrekord brechen. Aber zumindest für irgendetwas, finden die meisten, sollte eine Reise nützlich sein, sei es um eine Fremdsprache aufzufrischen oder Fotos von unberührten Orten mitzubringen. Die Logik der Verwertung folgt uns bis in den Urlaubsflieger. Für wahre Aussteiger ist es auf dieser Erde eng geworden.

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Geschrieben von

Martin Schlak

Journalist und Physiker. Schreibt Geschichten über Wissenschaft. Beobachtet, wie Technologie unsere Gesellschaft verändert.

Martin Schlak

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