Bitte mal aufräumen

Porträt Boyan Slat will mit schwimmenden Barrieren den Plastikmüll aus den Meeren fischen. Auf der ersten UN-Meereskonferenz ist er damit sehr gefragt. Ein Porträt aus dem Archiv
Ausgabe 40/2014
Boyan Slat will die Welt mit technischen Lösungen verbessern
Boyan Slat will die Welt mit technischen Lösungen verbessern

Foto: Michel Porro / Contour by Getty Images

Diese Geschichte hätte zwei Wege einschlagen können, einen wahrscheinlichen und einen unwahrscheinlichen. Im wahrscheinlicheren Fall wäre die kurze Notiz in der Lokalzeitung niemandem aufgefallen. Boyan Slat würde heute Luft- und Raumfahrttechnik studieren und auf Partys manchmal erzählen, wie er als 14-Jähriger ins Guinness-Buch der Rekorde kam, mit selbstgebauten Raketen aus leeren Wasserflaschen.

Es passierte aber das Unwahrscheinlichere. Die Zeitungsmeldung über Slats ersten Platz bei einem Schulprojekt fiel dem Organisator einer TEDx-Konferenz in die Hände, einer jener im Internet übertragenen Veranstaltungen, bei denen Visionäre ihre Ideen zur Weltverbesserung vorstellen. Und der TEDx-Mann lud Slat ein. So erzählte der damals 18-Jährige auf einer schwarzen Bühne, sichtlich nervös, wie er beim Tauchen in Griechenland auf mehr Plastiktüten als Fische stieß, wie ihn die Frage nicht mehr losließ, ob sich der Unrat nicht aus den Meeren fischen ließe. Und wie er schließlich in einem Schulprojekt einen Mechanismus entwickelte, die gigantischen Müllstrudel der Ozeane zu säubern. Das war vor zwei Jahren. Die Rede machte Slat in wenigen Monaten bekannt – und zu einem Hoffnungsträger. Mit seiner Non-Profit-Organisation The Ocean Cleanup sammelte er über das Internet gerade mehr als zwei Millionen Dollar für sein Projekt ein.

Lieber keine Systemdebatte

Diese Geschichte spielt in Delft. Sie könnte aber so ähnlich in einem Start-up in Berlin oder London spielen oder im Labor einer technischen Universität. Boyan Slat gehört zu einer jungen Generation von Umweltbewegten, die die Welt von Ingenieurbüros und Programmierstuben aus retten wollen. Diese Umweltaktivisten 2.0 sind groß geworden, ohne ständig über die Systemfrage zu debattieren und über den Antagonismus von Technologie und Umweltschutz zu sinnieren. Die moderne Technik und das World Wide Web mit seinen Vernetzungsmöglichkeiten waren für sie immer schon da und in ihrem Alltag viel zu präsent, um sie grundsätzlich in Frage zu stellen.

Die Aktivisten der analogen Zeit schauen eher misstrauisch auf die jungen Technikaffinen. Technologie sehen viele der Älteren eher als Teil des Problems, nicht der Lösung. Der Konflikt ist tief verankert in der Bewegung, und er bricht regelmäßig aus: wenn Vogelfreunde gegen Windräder wettern oder Ökobauern gegen Biogasanlagen protestieren. Für Slat ist dieser Konflikt ein gestriger. Worauf aber lässt er sich damit ein? Und worauf seine Unterstützer?

Boyan Slat als 18-Jähriger auf der TEDx-Konferenz

Delft, ein paar Zugminuten von Den Haag entfernt. Die Fahrräder am Bahnhof parken hier zweistöckig, auf dem Weg zum Universitätscampus klingeln einen die Studenten beiseite. Das kleine Büro der Müllfischer liegt in einer Halle der Technischen Universität, einem zweigeschossigen Spielplatz für Ingenieure. Durch das Fenster sieht man, wie Studenten an einem Solarboot schrauben. Nebenan baut einer an einem Kart, das mit Bioethanol fahren soll.

Man kann aber nicht einfach so vorbeikommen, um hier mit Boyan Slat zu sprechen. Der Weg zu ihm führt über eine der größten PR-Agenturen der Niederlande. Es dauert Wochen, bis ein Treffen zustande kommt. Boyan habe momentan leider keine Zeit, antwortet eine freundliche Pressefrau zunächst. Man solle es in zwei Monaten wieder probieren. Die Medien stehen Schlange. Und sie schreiben fleißig an dieser modernen Heldengeschichte mit.

In dem kleinen Büro bietet Slat ein Glas Leitungswasser an und fläzt sich dann auf ein Sofa. Er überlegt, wie sich das anfühlt, eine Ikone der Umweltbewegung geworden zu sein, ohne bisher auch nur ein einziges Plastikteil mit seiner Apparatur aus dem Ozean gefischt zu haben. „Es lastet eine große Verantwortung auf mir. Ich möchte niemanden enttäuschen, am wenigsten mich selbst“, sagt er. In Internetvideos spricht er gern Sätze, die etwas zu groß klingen für einen 20-Jährigen, Sätze wie: „Die Geschichte der Menschheit ist im Grunde eine Liste von Dingen, die nicht gemacht werden konnten und dann doch gemacht wurden.“

Dass er so vorprescht, hat ihm von erfahrenen Ozeanforschern viel Kritik eingebracht. Es ist die vorherrschende Lehrmeinung, dass die fünf bisher entdeckten Plastikstrudel der Meere sich nicht säubern lassen: zu weitläufig, zu viel Müll, zu weit weg von der Küste, aussichtslos. „Es gibt Leute, die wollen mich scheitern sehen. Aber noch mehr Leute wollen sehen, dass ich Erfolg habe“, sagt Slat dazu.

Wenn er zurückblickt, wundert er sich immer noch, wie schnell alles ging. „Das TED-Video hatten nach vier Monaten 3.000 Menschen gesehen.“ Damals dachte er noch, das sei viel. Aber dann ging es viral, kurz darauf hatte es eine Million Klicks. Und dann verselbstständigten sich die Dinge. Er unterbrach sein Ingenieursstudium, widmete dem Projekt seine ganze Zeit und sammelte per Crowdfunding in einem ersten Schritt 89.000 Euro für eine Machbarkeitsstudie ein. Das Gesicht des 20-Jährigen mit den Wuschelhaaren ging so via Twitter und Facebook um die Welt.

Es ist kein Zufall, dass manch ökologische Crowdfunding-Kampagne im Mahlstrom des Internets untergeht, andere für großes Aufsehen sorgen. Der Historiker Joachim Radkau führt in seinem Buch Die Ära der Ökologie aus, wie eine ökologische Apokalypse immer auch nach einer messianischen Botschaft verlangt. Boyan Slat liefert nicht nur eine einfache Botschaft, sondern auch ein jugendliches Gesicht dazu. Er verspricht, was die meisten etablierten Forscher für unmöglich halten: den Müllstrudel im Nordpazifik um die Hälfte der Plastikabfälle zu säubern, innerhalb von nur zehn Jahren. Das Ocean-Cleanup-Projekt schreibt das klassische Mantra der Umweltbewegung „Global denken, lokal handeln“ um zu „Global denken, global handeln“. Und Tausenden Unterstützern gefällt das. Slats Botschaft ist auch deshalb so erfolgreich, weil sie so kompatibel mit der I-like-Maschinerie des Netzes ist.

Von Juni bis Mitte September sammelte der Niederländer fast 2,2 Millionen Dollar per Crowdfunding ein. 35 Prozent der Spenden kamen aus Deutschland. Zuvor hatte Slat eine 500 Seiten starke Machbarkeitsstudie veröffentlicht. Er dachte, danach würde die Kritik aufhören. „Das war wahrscheinlich naiv“, sagt er heute. Der Studie fehlen Namen renommierter Forscher, die meisten Autoren sind unbekannt.

Die US-amerikanischen Meereskundler Miriam Goldstein und Kim Martini haben intensiv zum Müllstrudel im Nordpazifik geforscht und kritisieren Slats Machbarkeitsstudie. Sie glauben, dass die Kräfte von Strömung und Wind auf die Müllbarriere unterschätzt wurden. Und dass diese auch weit weniger Plastik sammeln könnte als erwartet. Zudem warnen sie davor, dass sich Mikroorganismen und Algen auf der Anlage ansiedeln, und ihre Funktionsweise gefährden. Das sei in Slats Studie nicht ausreichend berücksichtigt. Ihre Schlussfolgerung: „Der Report beweist nicht, dass das Ocean-Cleanup-Projekt in seiner derzeitigen Form machbar ist.“ Goldstein und Martini schreiben, sie freuten sich über die Aufmerksamkeit, die Meeresmüll plötzlich bekomme. Aber die Millionen hielten sie anderswo für besser angelegt.

Self-fulfilling Simulation

Slat arbeitet seitdem noch härter, um seine Kritiker zu überzeugen. Er sitzt sieben Tage in der Woche an seiner Idee. Nur sonntagmorgens nehme er sich frei, um zu joggen. Und er nehme jede Kritik sehr ernst, sagt er. Weist man ihn darauf hin, dass auf Seite 209 seiner Machbarkeitsstudie steht, die Müllbarriere würde sich laut einer Simulation in der Strömung bis zu 40 Grad neigen, die Effizienz sei aber auf Seite 175 bloß für einen Neigungswinkel von 10 Grad bestimmt, verspricht er sofort, eine Mail an seinen Ingenieur zu schreiben, um nachzufragen, ob der etwas übersehen habe.

Es stimmt, er nimmt Kritik ernst. Bloß keine Fundamentalkritik. Bald erscheine eine überarbeitete Version der Machbarkeitsstudie, sagt er. Aber: Wenn Computersimulationen und Messungen ergäben, dass etwas machbar sei, dann sei das auch machbar. Er möchte innerhalb der nächsten zwölf Monate einen verkleinerten Prototyp seiner Anlage ins Meer bringen. Vielleicht verstummten die Kritiker ja dann.

Sie werden wohl nicht verstummen. Dafür lässt sich die Technikgläubigkeit des Boyan Slat zu leicht mit Naivität verwechseln. Technologie selbst sei weder gut noch böse, sagt er. „Die meisten Technologien haben uns bisher genützt. Selbst wenn eine Technologie die Welt zum Schlechten verändert hat, zeigt das bloß, wie mächtig sie ist. Warum sollten wir dann nicht versuchen, sie zu unserem Vorteil einzusetzen?“ Fragt man ihn, ob er sich als Aktivist oder als Unternehmer sieht, antwortet er: „Ich würde mich am ehesten als Erfinder bezeichnen.“ Der Gründer von The Ocean Cleanup hat nie eine Demo für mehr Klimaschutz oder gegen Atomkraft besucht.

Was Slat damit aber auch auf den Prüfstand stellt, ist der klassische Mechanismus der Umweltaktivisten – diese Bilder, die jeder vor Augen hat: Greenpeace-Schlauchboote vor einer Walfangflotte, Atomkraftgegner, die sich an Schienen anketten. „Sie leisten sicher ganz wichtige Arbeit, um ein Problem ins öffentliche Bewusstsein zu bringen“, sagt er. Aber man dürfe nicht vergessen, sich auch um die Lösungen zu kümmern. Unter Lösungen verstand die Umweltbewegung bisher: politische Lösungen. Schärfere Umweltgesetze, mehr Geld für erneuerbare Energien, so etwas. Doch das Vertrauen vieler Engagierter der Ära 2.0 in die Politik ist nicht groß. „Ich habe kein Interesse, in den politischen Prozess verwickelt zu werden“, sagt Slat. „Politik verlangsamt die Dinge. Ich möchte nicht auf politische Entscheidungen angewiesen sein, um ein Projekt durchziehen zu können.“ Ist er aber natürlich doch, wenn es um die gesetzliche Grundlage seiner gigantischen Müllsammelanlage geht. Schließlich kann man keine 100 Kilometer lange Barriere einfach so im Ozean verankern.

Mehr Gedanken verwendet er aber im Moment auf die weitere Finanzierung. Sein Tag ist zweigeteilt: Morgens empfängt er Journalisten, nachmittags Firmenvertreter. Ohne Geld aus der Wirtschaft wird er die 300 Millionen Euro, die der Müllstaubsauger der Meere kosten soll, nicht auftreiben können. Das ist Slat klar, und wohl auch seinen Unterstützern. Doch bleiben einige Fragen offen: Wie eng sollte sich eine gemeinnützige Organisation mit der Wirtschaft verbandeln? Oder ganz konkret: Was würde Boyan Slat machen, böte ihm eine Chemiefirma aus der Plastikbranche morgen ein Sponsoring über einige Hunderttausend Euro an? „Das sind die heikelsten Entscheidungen“, sagt er – aber die Frage sei nicht weit hergeholt, die Chemieindustrie sei bereits auf ihn zugekommen.

„Es kann nicht sein, dass eine Firma einerseits uns unterstützt und andererseits Lobbyismus gegen schärfere Gesetze zur Plastikvermeidung betreibt“, sagt er. Aber nicht das Polymer selbst sei problematisch: „Die Verschmutzung der Meere ist ja nicht Teil des Geschäftsmodells der Verpackungsindustrie.“ Wenn also ein Unternehmen ernsthaft bemüht sei, seinen ökologischen Fußabdruck zu verringern, sei er offen, mit ihnen zu reden.

Umweltaktivisten der alten Schule mögen über so viel Pragmatismus den Kopf schütteln. Etablierte Forscher mögen ihre wissenschaftliche Expertise höher hängen als den unumstößlichen Enthusiasmus eines 20-Jährigen. Man darf aber nicht vergessen: Die Geschichte von Boyan Slat hat schon einmal eine unwahrscheinliche Wendung genommen. Warum sollte sie das nicht noch einmal tun?

Müllkippe Ozean

Ein Teil unseres Plastikabfalls landet in den Weltmeeren und sammelt sich dort in fünf riesigen Strudeln. Der größte Müllstrudel befindet sich im Nordpazifik. Die Meereskräfte zermahlen die Flaschen, Tüten und Verpackungen in immer kleinere Stücke. Fische und Vögel fressen sie, viele verenden daran. Zudem setzt der Kunststoff giftige Substanzen im Wasser frei.

Der Niederländer Boyan Slat möchte nun die Strömung im Nordpazifik-Strudel ausnutzen, um den Müll wieder einzusammeln – ein Unterfangen, das bisher als aussichtslos galt. Seine Konstruktion The Ocean Cleanup besteht aus zwei 50 Kilometer langen statischen Fangarmen. Diese sollen mit Seilen in vier Kilometern Tiefe auf dem Meeresgrund verankert werden. Die schwimmenden Barrieren ragen drei Meter tief ins Wasser und sind v-förmig angeordnet. Alle Plastikteile, die größer als zwei Zentimeter sind, stauen sich davor auf und treiben mit der Strömung zu einer Sammelplattform in der Mitte. Diese befördert das Plastik vollautomatisch in einen Behälter. Alle 45 Tage soll ein Schiff vorbeikommen und den Müll abholen. Ein Teil des Plastiks ließe sich vermutlich recyceln.

Im Juni veröffentlichte Slat eine wissenschaftlich fundierte Machbarkeitsstudie. Kritiker halten den Plan dennoch für unausgereift oder schlicht nicht durchführbar. Nick Mallos von der NGO Ocean Conservancy mahnte an, man solle lieber „den Wasserhahn zudrehen, statt die Badewanne mit einem Fingerhut leeren zu wollen“. msk

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Martin Schlak

Journalist und Physiker. Schreibt Geschichten über Wissenschaft. Beobachtet, wie Technologie unsere Gesellschaft verändert.

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