Brauchen wir eine Wikipedia-Uni?

Bildung Es gibt nun den ersten Wikipedian-in-Residence an einer Universität. Er wurde angestellt, um das Wissen aus den Seminaren für das Online-Lexikon aufzubereiten
Ausgabe 11/2014

Im Regal neben meinem Schreibtisch verstaubt eine Hausarbeit aus dem zweiten Philosophie-Semester mit dem wegweisenden Titel: "Eine Prüfung der Erklärung der Gestirnsbewegung durch den unbewegten Beweger in Aristoteles’ Metaphysik XII". Nur zwei Personen haben sie gelesen: Der Professor und eine Freundin, die zum Korrektorat verdonnert wurde. Der Welt blieben deshalb keine bahnbrechende Erkenntnisse vorenthalten. Und doch stellt sich die Frage: Warum das Wissen nicht öffentlich machen, das Studierende zusammentragen?

Die Universität Berkeley hat nun einen Wikipedian-in-Residence angestellt, was übersetzt "in einer Institution ansässiger Wikipedia-Autor" bedeutet. Er soll die Studierenden anleiten, die Ergebnisse ihrer Arbeiten im Online-Lexikon zu publizieren. Die US-Unikönnte damit als Vorbild für deutsche Hochschulen dienen. Aus bildungspolitischer Sicht ist das Projekt zu begrüßen. Milliarden Euro Steuergelder fließen jährlich in die Hochschulen. Da-raus leitet sich ein Anrecht auf Teilhabe an den Erkenntnissen ab, die dort generiert werden. Wenn es Unis jedoch tatsächlich darum ginge, den Zugang zu Wissen zu erleichtern, wäre ein anderer Schritt noch wichtiger: Die wissenschaftlichen Publikationen selbst, die bei Wikipedia oft als Referenz dienen, sollten für alle zugänglich sein. Die meisten verschwinden aber bisher hinter Bezahlschranken.

In Berkeley soll der Wikipedian-in-Residence auch dabei helfen, Seminarergebnisse für ein Wiki im Allgemeinen oder Wikipedia im Speziellen aufzuarbeiten. Angehende Akademiker lernen so, mit Quellen umzugehen und können ihre Erkenntnisse mit Mitstudierenden teilen. Im besten Fall könnte Wikipedia so zur seriösen Quelle aufsteigen. Bisher sind Referenzen auf den Wissensfundus im Netz in akademischen Arbeiten immer noch verpönt.

Im schlechteren Fall könnte die Wiki-Uni aber zu einer Art Hochschulökonomisierung 2.0 führen. Denn hinter der Idee steckt ein verqueres Bild von universitärer Lehre: Konsequent zu Ende gedacht zählt in Zukunft dasjenige Seminar am meisten, das möglichst viele Wikipedia-Beiträge generiert. Aber nicht jede fruchtbare Seminardiskussion lässt sich zu einem Lexikoneintrag zusammenköcheln. Wenn die Universität nur noch dafür da ist, das Bisherige in verständlichere Worte zu kleiden, macht sie etwas verkehrt.

Das Fazit? Wikipedia an der Uni: Ja, aber in Maßen. Das Resümee der erwähnten Aristoteles-Hausarbeit ist besser im Regal aufgehoben. Glauben Sie mir, es ist zum Wohle aller.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Martin Schlak

Journalist und Physiker. Schreibt Geschichten über Wissenschaft. Beobachtet, wie Technologie unsere Gesellschaft verändert.

Martin Schlak

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