Das Stigma der Sozialdemokraten

Wahlkampf Angela Merkel wirft der SPD Unzuverlässigkeit in der Euro-Krise vor. Nicht das erste Mal wird den Genossen staatstragendes Verhalten nicht gedankt
Als Euro-Patrioten lassen sich die Sozialdemokraten von niemandem übertreffen
Als Euro-Patrioten lassen sich die Sozialdemokraten von niemandem übertreffen

Foto: Odd Andersen

Die Sozialdemokratie fühlt sich brüskiert, denn Angela Merkel hat Salz in eine alte Wunde gestreut. In einem noch nicht veröffentlichten ARD-Interview meinte die christdemokratische Kanzlerin: „In der Frage der Euro-Krise ist die Sozialdemokratie total unzuverlässig.“ SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück regte das beim TV-Duell am Sonntag sichtlich auf – hatte seine Partei im Bundestag doch stets den Maßnahmen zur Euro-Rettung zugestimmt.

Im aktuellen Konflikt zeigt sich ein altes Muster. Ging es in den vergangenen 150 Jahren um politische Entscheidungen von historischer Tragweite, machte die SPD schon mehrere Male eine ähnlich frustrierende Erfahrung: Sie handelte staatstragend – aber honoriert wurde das fast nie.

Die SPD unzuverlässig in Europa-Fragen? Vergessen scheint der 29. Juni 2012, als die Genossen der Kanzlerin im Bundestag die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit für den Europäischen Stabilitäts-Mechanismus und den Fiskalpakt besorgten. Vergessen die anderen Abstimmungen zur Euro-Rettung, als die SPD zwar Kritik an der Regierungspolitik übte, aber letztendlich doch zustimmte – der Stabilität Europas wegen, wie Steinbrück jedem verkaufte, der es hören wollte.

Es ändert wenig, dass Merkel nun über ihren Sprecher ausrichten ließ, ihre Aussage in jenem Interview sei missverstanden worden. Sie habe die „gegensätzlichen Auffassungen von Bundesregierung und SPD über Eurobonds, Schuldentilgungsfonds und gemeinschaftliche Haftung in der Euro-Zone“ gemeint.

Wie eine rote Linie

Die Missachtung der sozialdemokratischen Konzilianz durch die konservative Elite zieht sie wie eine rote Linie durch das vergangene Jahrhundert. Beispiele gefällig?

Als Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1914 rief: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“, da fühlten sich die Sozialdemokraten pflichtbewusst angesprochen und stimmten im Reichstag den Kriegskrediten zu. Damit war der Weg in den Ersten Weltkrieg frei. Die SPD hatte sich vor der Staatskarren gespannt – angerechnet wurde ihr das nicht.

Vier Jahre später, mitten in den Wirren der November-Revolution 1918, schloss der damalige SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert mit Wilhelm Groener, dem Chef der Obersten Heeresleitung, einen Pakt gegen die Kräfte links der SPD. Die konservativen Eliten nahmen das Entgegenkommen gern an, wollten sich aber später nicht mehr daran erinnern. Im Gegenteil musste sich auch die SPD als „Novemberverbrecher“ beschimpfen lassen.

1919 stimmte SPD-Ministerpräsident Gustav Bauer unter starken Bauchschmerzen dem Versailler Vertrag zu – wohlwissend, dass eine Ablehnung höchstwahrscheinlich direkte militärische Konsequenzen seitens der Siegermächte hervorgerufen hätte. Als das labile Gleichgewicht der Nachkriegsjahre auf dem Spiel stand, lautete die Parole der SPD also wieder: im Zweifel staatstragend.

Vielleicht hat sich Merkel, als sie jetzt die SPD als wankelmütig hinstellte, auch an Konrad Adenauer ein Beispiel genommen. Mit dem Spruch „Keine Experimente“ richtete sich der CDU-Kanzler im Bundestagswahlkampf 1957 an die Deutschen, die sich in der Bequemlichkeit des Wirtschaftswunders eingerichtet hatten.

Die Adenauer-CDU schätzte die Genossen als unsichere Kantonisten ein, die eine fortschreitende Eingliederung Deutschlands in den Kanon der Westmächte gefährden würden. Auf keinen Fall sollten die Sozialdemokraten Regierungsverantwortung übernehmen. Dabei bekannte sich auch die SPD grundsätzlich zur Westbindung.

Auf dem Wahlplakat der CDU war damals übrigens neben dem Slogan nur eins zu sehen: ein Porträt Adenauers. Köpfe statt Inhalte, nur ein beruhigendes „Keine Experimente“ – die Parallele zum CDU-Wahlkampf 2013 und seiner ideenlos beharrenden, konservativen Europa-Politik ist unverkennbar.

Über die ständige Undankbarkeit der konservativen Kräfte gegenüber der loyalen SPD kann man viel lamentieren. Oder man sieht sie als Markenzeichen der Sozialdemokraten an. Denn daraus generiert die Partei unverkennbar einen Teil ihres Mythos.

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Geschrieben von

Martin Schlak

Journalist und Physiker. Schreibt Geschichten über Wissenschaft. Beobachtet, wie Technologie unsere Gesellschaft verändert.

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