An einem Tag im Oktober tauchte bei Twitter ein Bild der Schande auf. Es zeigt eine Gruppe Menschen, die versucht, über den europäischen Grenzzaun in der spanischen Exklave Melilla zu klettern. Im Vordergrund stehen zwei Frauen auf einem Golfplatz und schwingen die Schläger, als würden sie von dem Drama nichts mitbekommen. Für die einen geht es in dem Augenblick um Leben und Tod, für die anderen um den weitesten Abschlag. Das Foto bildet die derzeitige Asylpolitik in ihrer ganzen Perversion ab, und es hätte den Beginn einer zornig-mutigen flüchtlingspolitischen Aufschrei-Debatte bilden können. Viele geißelten in ihren Kommentaren die Gleichgültigkeit der Golferinnen, bei 376 Nutzern reichte die Empörung für einen Retweet R
#8211; der Rest klickte sich wahrscheinlich einfach weiter zur nächst Promi-Bilderstrecke.Man mag diese Reaktion für symptomatisch halten, was die Frage aufwirft: Sind die sozialen Netzwerke ein Ort, an dem wir Mut beweisen können? Oder macht uns die Eigendynamik von Facebook und Co. mutlos? Es lohnt sich, kurz in die Anfangszeit des Web 2.0 zurückzublicken. Die Erzählung der sozialen Netzwerke begann ja als ein großes Versprechen: Jeder würde nun seine Meinung mit der Welt teilen, Minderheiten sich Gehör verschaffen können. Es ging um das Einebnen von Machtstrukturen, das immer Mut erfordert. Bloß: Das Versprechen erfüllte sich nicht. Erst kamen die Plattformen als große Datenschleudern in Verruf, dann als Konformitätsmaschinerien, als ein Strom von Gefällt-mirs, Retweets und Shitstorms, aus dem sich kaum einer auszuscheren traut. Die Diskussion pendelt seitdem zwischen den schwarz-weißen Extremen. Zeit für ein Update.Oscar-Selfies und EiseimerSchaut man auf die Trends 2014 in den sozialen Netzwerken, können sich die Schwarzmaler eigentlich bestätigt fühlen. Zwei Ereignisse sind hängen geblieben: Bradley Cooper knipste bei der Oscar-Verleihung ein Selfie, und 3,4 Millionen Menschen haben das auf Twitter geteilt. Damit brach das Foto alle bisherigen Rekorde. Auf Facebook kippte sich die halbe Freundesliste einen Eimer Eiswasser über den Kopf, um gegen eine Krankheit zu kämpfen, deren Namen wir schon längst wieder vergessen haben. Mut jedenfalls enthielt die kalte Dusche nicht einmal mehr in homöopathischen Dosen.Es gibt mindestens zwei Gründe, warum Likes unter Urlaubsbildern bei Facebook die Regel sind, mutige politische Statements eher die Ausnahme. (Wer überzeugt ist, er selbst nutze Facebook anders, dem sei empfohlen, das eigene Aktivitätenprotokoll aufzurufen.) Der erste Grund liegt in der Natur des Menschen, der andere in der Architektur des Netzwerks. Forscher des Pew Research Center haben im August eine viel beachtete Studie veröffentlicht. Demnach regiert die sogenannte Schweigespirale, die aus der Offline-Kommunikation bekannt ist, auch im Netz. Wer glaubt, dass sein eigener Standpunkt von Freunden, Familie oder Kollegen nicht geteilt wird, der äußert sich in politischen Diskussionen eher zurückhaltend. Und weil die Online-Freundesliste meist lang ist, ist die Tendenz zur Selbstzensur besonders ausgeprägt. Mut beweist aber nur derjenige, der für seine Überzeugungen einsteht, obwohl er deshalb Nachteile zu befürchten hat.Ein zweiter Grund liegt in der Beschaffenheit des Netzwerks. Facebook und Twitter ebnen die Unterschiede in der Relevanz ein; die Gleichwertigkeit von Content ist gar ihr elementares Prinzip. Die Timelines zeigen uns Katzenbilder neben Flüchtlingsdrama neben Sockenwerbung. Dieses Nebeneinander verleitet zu einer Haltung, für die das Wort „Slacktivism“ steht. Es ist eine Zusammensetzung aus „slacker“ und „activism“, übersetzt etwa Faulpelzaktivismus. Der Publizist Evgeny Morozov spricht von „Wohlfühlaktivismus“. Slacktivism sei „der ideale Typ von Aktivismus einer faulen Generation: warum sich auf Sit-ins möglicherweise einer Verhaftungsgefahr und Polizeigewalt aussetzen, wenn man eine genauso laute Kampagne im virtuellen Raum betreiben kann“. Ob die Slacktivisten damit richtigliegen, sei dahingestellt, mutig sind sie oftmals eben nicht. Denn eine couragierte Handlung erfordert ein Mindestmaß an persönlicher Involviertheit, die über ein paar Klicks hinausgeht.Internationaler VergleichEs ist bei der Mutfrage im Netz gewinnbringend, die westliche Perspektive zu verlassen und noch einmal über den Fall Aliaa Magda Elmahdy nachzudenken. Die Ägypterin stellte 2011, im Jahr des Arabischen Frühlings, in einem politischen Akt Nacktfotos von sich online – erst auf Facebook, wo das Bild zensiert wurde, später auf ihrem Blog. Sie wolle sich damit, schrieb sie, „gegen eine Gesellschaft von Gewalt, Rassismus, Sexismus, sexueller Belästigung und Heuchelei“ wehren. Mit der Folge, dass das konservative Ägypten ihr zürnte, Morddrohungen schickte und die junge Frau ins Exil flüchtete. Und das bloß, weil Aliaa Elmahdy Moralvorstellungen, Tabus und Gewissheiten der Mehrheitsgesellschaft in Frage stellte.Weil Individuen und Gruppen in Netz-Aktionen immer wieder ihren Mut unter Beweis stellen, sehen sich autoritäre Herrscher regelmäßig zur Zensur genötigt. Es ist noch nicht vergessen, wie Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei Twitter abschalten ließ. Eine mutige Handlung wird vom Adressaten eben stets gefürchtet – das ist online nicht anders als offline.Der Blick nach außen hilft, klarer zu sehen, wie digitaler Mut in unserer Gesellschaft aussehen könnte. Als Beispiel dafür kann auch die #Aufschrei-Debatte aus dem vergangenen Jahr dienen, in der Tausende auf Twitter gegen Alltagssexismus protestierten. Die 140-Zeichen-Beiträge wendeten sich erstens gegen eine schweigende Mehrheit, die Sexismus für ein überkommenes oder zu vernachlässigendes Problem hielt. Gleichzeitig erzählten die Aufschreienden persönliche Erlebnisse. Das kostet Kraft und Überwindung und ist deshalb das Gegenteil des Online-Wohlfühlaktivismus. Viele Tweets in dieser Debatte waren deshalb vor allem eins: mutig.
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