Müssen Politiker authentisch sein?

Norm Eine große Frage im Wahlkampf war: Wie glaubwürdig sind die Kanzlerkandidaten? Der Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen hinterfragt diesen Imperativ der Authentizität
Sieht ganz schön authentisch aus: Peer Steinbrück
Sieht ganz schön authentisch aus: Peer Steinbrück

Foto: JOHANNES EISELE/AFP/Getty Images

Am 16. Juni, um exakt 13.15 Uhr, schnurrte monatelanger, lautstarker Medienrummel zu einem einzigen Schluchzer zusammen. Monatelang war es um Glaubwürdigkeit gegangen, um die Authentizität des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück. Die Menschen fragten sich: Kann ein früherer Anhänger der Hartz-Reformen, einer, der über eine Million Euro für Vorträge eingestrichen hat, nun ernsthaft eine soziale Agenda vertreten? Dann stellte jemand Steinbrück beim Parteikonvent die Frage, warum er sich diese Kandidatur eigentlich antue. Der schluckte, seine Hände zitterten – und war da nicht sogar eine Träne gekullert?

Diese Träne wurde nicht etwa als Schwäche interpretiert, sie galt schnell als Symbol für Glaubwürdigkeit. Der Pop-Theoretiker Diedrich Diederichsen hat sich ausführlich mit Authentizität in Kunst und Musik beschäftigt – und hinterfragt den Imperativ des Authentischen. Kürzlich sprach er darüber in einem Vortrag bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin, als Auftakt zur Gesprächsreihe "Auf der Höhe – Diagnosen zur Zeit". Diederichsen hat beobachtet, wie Authentizität verstärkt an "äußeren Anzeichen" festgemacht werde. Der Rock-Musiker gilt demnach etwas, wenn er schwitzt, die Echtheit der Darbietung werde durch die "Ausstellung von Körperflüssigkeiten" bestätigt.

Ausstellung der Körperflüssigkeiten

In der Musik kam die Authentizitäts-Debatte laut Diederichsen in den Fünfzigern auf, als struktur-konservatives Bestreben vorwiegend weißer, heterosexueller Männer, "etwas durchzusetzen, dessen Werte längst durchgesetzt sind". Anders gesagt: als Kampfbegriff gegen Doppelmoral. Es dauerte nicht lange, und eine Gegenbewegung formierte sich, die Rollen und Stereotype durch "frei erfundene Identitäten" gekontert habe.

Längst ist die Debatte um das Authentische in der Politik angekommen. Man könnte sogar behaupten: Der Ruf nach Authentizität zog sich wie ein Leitmotiv durch diesen Wahlkampf. Steinbrück warf Konkurrentin Angela Merkel vor, dass sie europäische Werte nicht überzeugend vertreten könne – ob ihrer ostdeutschen Wurzeln. Steinbrück wünschte sich Beinfreiheit. Er redete Klartext, zeigte im SZ-Magazin den Stinkefinger. Er inszenierte sich als jemand, der sich nicht verbiegen lässt. Eigentlich gehorchte er damit aber nur den Spielregeln einer Gesellschaft, die die Authentizität zur Norm erhoben hat. Und je stärker Medien Politik personalisieren, desto größer wird das Ausrufezeichen hinter dieser Norm.

Die Spielregeln der Gesellschaft

Die Frage ist nun: Ist die Norm der Authentizität eigentlich wünschenswert? Diederichsen verweist auf ein Problem: Als Authentizität Seite an Seite mit ihrer Gegenbewegung zum Imperativ wurde, habe das zum Widerspruch der modernen Arbeitswelt geführt. Sie fordert vom Individuum: "Sei Du selbst!" Und die Gegenbewegung fordert gleichzeitig: "Erfinde dich neu!" In dieser Spannung findet die Selbstausbeutung der Kreativen statt – und auch die der Politiker. Folgt man Diederichsen, reduzieren sich die beiden Positionen zur reinen Strategie auf dem Weg zum Erfolg.

Politiker sollten überdenken, ob sie diese Norm weiter erfüllen wollen – und die Wähler, ob sie sie weiter einfordern. Wer auf der Bühne steht, ob im Theater, beim Konzert, beim Parteitag, spielt letztlich eine soziale Rolle. Die Pop-Musiker wissen das nur zu gut. Diederichsen: "Sie spielen damit, die Rolle zu sein, die sie immer wieder selber spielen." Die Politiker haben es nicht zu dieser Perfektion gebracht, manche verkörpern ihre Rolle überzeugender, andere eher weniger. Diesen Punkt mal beiseite, das Grundproblem ist ein anderes: Wenn Menschen auf der Bühne zwingend eine Rolle einnehmen, geht dann nicht der Referenzpunkt verloren, um der Authentizität dieser Person überhaupt noch sinnvoll nachspüren zu können?

Den nächsten Vortrag der Reihe "Auf der Höhe - Diagnosen zur Zeit" hält die Soziologin Greta Wagner zum Thema "Burnout - Warum unsere Gesellschaft so erschöpft ist" am 18. November um 19.30 Uhr im Gebäude der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin

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Geschrieben von

Martin Schlak

Journalist und Physiker. Schreibt Geschichten über Wissenschaft. Beobachtet, wie Technologie unsere Gesellschaft verändert.

Martin Schlak

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