Wenn der Moral-Akku runter ist

Psychologie Forscher wollen rausgefunden haben, dass wir nachmittags eher lügen als vormittags. Bleibt die Frage: Welche Folgen hat diese Erkenntnis für unseren Alltag?
Ausgabe 47/2014
„Liebst du mich?“. Lieber am Morgen noch mal nachfragen ...
„Liebst du mich?“. Lieber am Morgen noch mal nachfragen ...

Foto: Christof Stache/AFP/Getty Images

Wann hat Ihnen zum letzten Mal jemand auf die Frage „Liebst du mich?“ mit Ja geantwortet? Es geht hier nicht darum, ob das zwei Stunden oder einen Monat her ist, sondern um die Tageszeit: Fand das Gespräch nach dem Aufstehen oder vor dem Schlafengehen statt? Im zweiten Fall könnte es sich lohnen, morgen früh noch einmal ganz genau nachzufragen.

Zwei US-amerikanische Forscher haben in einer neuen psychologischen Studie gezeigt, dass wir nachmittags mehr schummeln und lügen als vormittags. In einem ihrer Experimente verdienten Probanden umso mehr Geld, je öfter sie bei einem Spiel am Computer mogelten. Und das taten die Teilnehmer nach zwölf Uhr öfter. Die Wissenschaftler schließen daraus, dass der Antrieb zu ethischem Verhalten über den Tag erschlafft. Erst nachts laden wir unseren moralischen Akku wieder auf. Sie nennen das Phänomen Morning Morality Effect.

Es lässt sich hinterfragen, ob ein so simples Experiment wirklich etwas über unser Verhalten bei komplexen moralischen Dilemmata aussagt – oder ob es vergleichbar damit ist, Proban-den fettige Pommes vorzusetzen, um Rückschlüsse über die Akzeptanz der Haute Cuisine zu ziehen. Aber so kleinteilig tasten sich die empirischen Wissenschaften eben voran.

Ihr Ergebnis, schreiben die Forscher, könnte beeinflussen, „wie Menschen und Organisationen zukünftig ihre moralisch relevanten Aufgaben strukturieren“. Stimmt das? Sollten Gerichte ausschließlich morgens verhandeln, politische Debatten aus dem Spätprogramm verbannt werden? Und sollen wir nach dem Mittagessen jetzt keinem mehr über den Weg trauen?

Natürlich nicht, denn der festgestellte Effekt ist zu gering für solche Folgerungen. Weder sind vormittags alle ehrlich, noch bricht mit dem Glockenschlag um zwölf das große Lügen aus. Eine einfache Kausalität zwischen Tageszeit und Aufrichtigkeit gibt es nicht. Es hilft auch wenig, alle moralischen Entscheidungen am Arbeitsplatz auf den Vormittag zu schieben und nachmittags nur noch zum Kopierer zu gehen. Die kognitive Müdigkeit stellt sich laut den Forschern nach einer gewissen Zahl von Entscheidungen ein, egal, wann am Tag wir sie treffen – so wie ein Muskel nach 40 Liegestützen erschlafft.

Gewinnbringender fürs Zusammenleben wäre es da wohl, unseren moralischen Akku insgesamt leistungsfähiger zu machen. Das eigentliche Problem ist ja, dass viele Menschen unter einem Morality Memory Effect leiden. Ihr Moral-Akku droht nach ein paar Tausend Ladezyklen den Geist aufzugeben.

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Geschrieben von

Martin Schlak

Journalist und Physiker. Schreibt Geschichten über Wissenschaft. Beobachtet, wie Technologie unsere Gesellschaft verändert.

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