„Flucht ist kein Verbrechen“

Aufenthaltsrecht Der neue Gesetzentwurf des Innenministeriums hebelt den Rechtsstaat aus, kritisiert Marei Pelzer von Pro Asyl. Die Polizei könne Flüchtlinge einfach wegsperren
Ausgabe 25/2014
„Flucht ist kein Verbrechen“

Bild: Sean Gallup / Getty

Der Freitag: Frau Pelzer, Sie haben den aktuellen Gesetzentwurf des Bundesinnenministeriums zur Reform des Aufenthaltsrechts als „gigantisches Inhaftierungsprogramm“ bezeichnet. Ist das nicht etwas übertrieben?

Marei Pelzer: Wer den Gesetzentwurf liest, bekommt das Gefühl, es sollen alle rechtsstaatlichen Garantien bei der Abschiebungshaft abgeschafft werden. Die Polizei kann dann Menschen ohne richterliche Kontrolle einsperren. Damit wird der im Grundgesetz verankerte Richtervorbehalt ausgehebelt. Zudem dürfen neu einreisende Asylsuchende, bei denen die Zuständigkeit eines anderen EU-Staats festgestellt wurde, unbefristet in Haft genommen werden.

Wie wird das begründet?

Das Innenministerium hat sich sieben Punkte ausgedacht, die das Wegsperren rechtfertigen sollen. Künftig soll es etwa schon reichen, dass ein Asylsuchender einen anderen EU-Staat verlassen hat, obwohl dort das Asylverfahren noch lief. Wer die Verhältnisse in Ungarn, Bulgarien oder Italien kennt, weiß jedoch, dass Betroffene gute Gründe haben, diese Länder zu verlassen. Sie vegetieren dort oftmals im völligen Elend, obdachlos und ohne jegliche staatliche Unterstützung vor sich hin.

Laut Innenminister Thomas de Maizière stellen die neuen Haftgründe keine Verschärfung dar. Es seien die gleichen, die auch jetzt schon für die Abschiebungshaft herangezogen würden. Stimmt das?

Nein. Bisher mussten die Behörden den Gerichten genau erklären, warum im Einzelfall eine Haft nötig ist. Die pauschale Annahme, dass bei Asylsuchenden, die nicht in das für sie zuständige EU-Land zurück wollen, immer „Fluchtgefahr“ bestehe, ging vor Gericht nicht durch. Jetzt will das Innenministerium eine Art Standardhaft für diese sogenannten „Dublin-Fälle“ einführen.

Wie gehen die deutschen Behörden denn derzeit vor?

Gegenwärtig laufen vor allem diejenigen Flüchtlinge Gefahr, in Abschiebungshaft zu geraten, die nahe der Grenze von der Bundespolizei aufgegriffen werden. Dabei wird nach wie vor das verfassungswidrige racial profiling betrieben – die Kontrolle aufgrund rein äußerlicher Merkmale.

Das Innenministerium will nun auch diejenigen Flüchtlinge inhaftieren, die bereits eingereist sind und in einer Aufnahmeeinrichtung gelebt haben. Bisher wurden die Betroffenen meist völlig überraschend abgeschoben, ohne vorherige Ankündigung, oft in Nacht-und-Nebel-Aktionen. Das ist natürlich völlig inakzeptabel. Aber die Flüchtlinge auch noch zu inhaftieren, das muss auf jeden Fall verhindert werden. Flucht ist schließlich kein Verbrechen, und Flüchtlinge gehören nicht hinter Gitter.

In Deutschland werden Abschiebehäftlinge gemeinsam mit Strafgefangenen untergebracht. Diese Praxis wurde von deutschen Gerichten als unrechtmäßig abgelehnt, auch die einschlägige EU-Richtlinie fordert eine räumliche Trennung. Findet sich dazu etwas in dem neuen Gesetzentwurf?

Nein. Das ist absurd. Obwohl Deutschland mittlerweile kurz vor einer Verurteilung durch den europäischen Gerichtshof in Luxemburg steht, gibt es immer noch keine Einsicht im Innenministerium.

Das Bundesinnenministerium möchte mit dem Gesetz verstärkt gegen Personen vorgehen, die angeblich nur einreisen, um Sozialleistungen zu beziehen. Was ist hier vorgesehen und wie soll das im Einzelfall festgestellt werden?

Das Schlimme an diesen Plänen ist, dass abgelehnten Asylsuchenden pauschal unterstellt wird, sie seien wegen des Bezugs öffentlicher Leistungen eingereist. Dies soll für diejenigen gelten, deren Antrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wurde. In den letzten Jahren waren das Zehntausende. Diese Personen sollen dann weder arbeiten dürfen noch ein Bleiberecht aus humanitären Gründen erhalten können. Das ist wirklich völlig realitätsfremd und unmenschlich. Viele abgelehnte Asylbewerber leben seit vielen Jahren mit Duldung in Deutschland und sind Teil der Gesellschaft. Sie nun gesetzlich auszugrenzen, ist auch integrationspolitisch äußerst unklug.

Innenminister Thomas de Maizière spricht von einem „ausgewogenen Paket“, weil es auch vorsieht, dass Menschen, die bisher bloß geduldet waren, nun das Bleiberecht bekommen können.

Das ist Augenwischerei. Das Bleiberecht wird durch andere Regelungen ausgehebelt. Wenn zum Beispiel der Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt wurde, bekommt die Person kein Bleiberecht. Ausgeschlossen wird auch, wer in der Vergangenheit einer Ausreisepflicht nicht nachgekommen ist. Und das trifft auf die meisten zu, die eigentlich vom Bleiberecht profitieren sollten.

Die SPD hat den Gesetzentwurf bereits als zu restriktiv kritisiert. Glauben Sie, dass der Entwurf noch entschärft werden kann?

Nein, der Gesetzentwurf muss vollständig eingestampft werden. Er torpediert nicht nur jegliche Vorstellung eines modernen Migrationsrechts, er geht auch komplett an den Vereinbarungen des Koalitionsvertrages vorbei. Das sollte der SPD zu denken geben.

Das Gespräch führte Martin Steinhagen

Marei Pelzer ist rechts-politische Referentin bei Pro Asyl. Die Juristin ist spezialisiert auf das europäische Flüchtlingsrecht und dessen Umsetzung

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