Dem 1923 in Wien geborenen, in Zürich aufgewachsenen und dann in New York lehrenden Sohn eines Rabbiners eilte der Ruf eines Buches voraus: der Abendländischen Eschatologie (1947, erhältlich bei Matthes & Seitz), einer faszinierenden Darstellung und Analyse des endzeitlichen Denkens von der Bibel bis zu Kierkegaard und Marx. 1962 wurde er von der Columbia University an die Freie Universität Berlin auf den Gründungslehrstuhl für Judaistik und Religionssoziologie berufen, wo er auch die Fachrichtung Hermeneutik am Institut für Philosophie leitete. Die Berufung ist mit großen Erwartungen verbunden; Jacob Taubes verfügt sowohl über ein großes Wissen über die jüdische Religionskultur als auch über die westliche Philosophie – das ist neu an der Freien Universität.
Nicht vorgesehen ist die Rolle, die Taubes 1968 einnimmt: Er ist der Impresario der Revolte aufseiten der Professoren. Dazu eignet er sich deshalb so gut, weil er als Fachmann für Eschatologie auch einer für das Ende ist: das Ende der Zeit, das Ende der Geschichte, das Ende des Kapitalismus.
„1968“ beginnt in Berlin früher. Am 10. Dezember 1966 findet am Rand der Innenstadt eine Vietnam-Demonstration statt, bei der Teilnehmer, die zum Ku’damm liefen, von der Polizei geschlagen werden. Am Samstag darauf wird neuerlich protestiert, auch hier kommt es wieder zu polizeilichen Übergriffen, die auch Beobachter, Spaziergänger und vorweihnachtliche Berlinbesucher betreffen. Taubes erhält einen Stoß in die Rippen. Die beobachtete und erfahrene körperliche Gewalt radikalisiert ihn. An den Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz (SPD) schreibt er einen offenen Brief, in dem er warnt und auffordert, dass „in einem Land, in dem vor nicht allzu langer Zeit Träger staatlicher Uniformen die schlimmsten Verbrechen ausführten, Uniformträger angehalten werden sollten, sich streng im Rahmen der durch den Anlass erforderten Maßnahmen zu halten. Gebrüll, Festnahmen, Tätlichkeiten gegen lediglich diskutierende junge Studenten – das erweckt allzu böse Erinnerungen.“
Die Pflicht zur Provokation
Bei einer Vollversammlung Anfang Mai 1967 tritt Taubes, der gerade von einer Reise in die USA zurückgekehrt ist, erstmals vor den Studenten in Verteidigung ihrer Sache in Erscheinung. In seiner Rede trägt er die Proteste in einen doppelten Zusammenhang ein: in den mit der deutschen Philosophie (Kants Hinweis auf die selbst verschuldete Unmündigkeit) und in den mit den Kämpfen an den US-amerikanischen Universitäten, die sich nun auf Berlin übertragen hätten.
Andere werden sich später daran erinnern, dass er und die Philosophin Margherita von Brentano, seine zweite Frau, erst nach den Ereignissen des 2. Juni 1967 die Studenten zu unterstützen beginnen. Margherita von Brentano ist ihrerseits eine schillernde Figur, die als erste Vizepräsidentin der FU ein Idol der feministischen Emanzipation, als Sozialistin Vorbild für die eine und Feindbild für die andere Seite ist. Gretchen Dutschke, die Frau von Rudi, findet ihre Reden „viel intelligenter“ als die von Jacob Taubes. Schon etliche Jahre gibt sie mit Peter Furth einen Kurs über Antisemitismus, der großen Anklang findet. In den 1970er Jahren wird sie zusammen mit Taubes und anderen gegen den rechten Bund Freiheit der Wissenschaft kämpfen.
Jetzt aber erlebt Berlin einen Prozess gegen Mitglieder der Kommune I, Deutschlands erster Wohngemeinschaft, die in Symbiose mit den sie anprangernden Medien leben. Sie ahnen, was heute alle wissen: Provokation macht berühmt. Im Mai 1967 rufen sie in Flugblättern mehrmals zur Brandstiftung in Kaufhäusern auf. Daraufhin werden die Verfasser inhaftiert. Ihr Anwalt Horst Mahler kann linke Professoren dazu bewegen, entlastende Gutachten zu verfassen, so auch Taubes, der in seinem Gutachten argumentiert, dass es sich bei den inkriminierten Aufrufen um „surrealistische Dokumente“ handele. Ihre Verfasser, selbst alles Bürgerkinder, wollten als Bürgerschreck auftreten, sie trieben ein „Spiel mit Worten“. „Die systematische Zerstörung geht immer nur – bis zum Skandal. Und es versteht sich von selbst, dass es die erste ‚Pflicht‘ solcher Gruppen bleibt, den Skandal zu provozieren.“
Zum Beweis seiner Argumentation, die er bald auch im Merkur veröffentlicht, verweist Taubes auf André Breton, der erklärt hatte: „Die schlichteste Tat des Surrealismus besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße hinabzugehen und wahllos, ziellos, hemmungslos in die Passanten zu ballern.“ Zumindest diese Idee könnte auch Dieter Kunzelmann gefallen haben, dem dieses Gutachten wie alle anderen gleichgültig war. Er war für Aktion, nicht Reflexion, für Spaß, nicht Spekulation. Taubes aber hatte am radical chic der Studenten und ihres Umfelds Gefallen gefunden.
Im Juli kommt es an der FU zu mehreren großen Auftritten des US-amerikanischen Philosophen Herbert Marcuse, eines Schülers Heideggers, der allerdings radikaler Marxist ist und als einer von wenigen Professoren zwischen Theorie und Praxis vermitteln will. Mit seiner Kritik an der „repressiven Toleranz“ und seinen radikalen Formeln wird Marcuse zum Star der Studenten: „In der Strenge des Denkens und in der Narrheit der Liebe liegt die umstürzlerische Absage an die bestehende Lebensform.“ Marcuse erscheint wie eine Reinkarnation der von Taubes so geschätzten Gnostiker. Denn auch diese stellten alles, was ist, so in Frage wie gegenwärtig die Studenten. Und es wirkt nur konsequent, dass Taubes Marcuse, den er seit Mitte der 1950er kennt, mit dem er sogar befreundet ist, als Gastprofessor nach Berlin holt.
Und Marcuse enttäuscht die Studenten nicht. Im Audimax bestreitet er vor mehreren tausend Studenten einen Diskussionsabend über „Das Ende der Utopie“, einen Tag später einen zweiten über „Das Problem der Gewalt in der Opposition“. Es folgt eine Podiumsdiskussion über „Moral und Politik in der Überflussgesellschaft“, die Taubes moderiert und mit einem längeren Statement einleitet. Darin weist er darauf hin, dass „die geschichtliche Möglichkeit einer freien Gesellschaft heute in Formen“ bestünde, die „Bruch“, „Negation“, „Differenz“ favorisierten – das klingt durchaus aktuell. Am letzten Tag kommt es dann zu einer Diskussion von Marcuse mit Studenten über Vietnam.
Bleiernes Jahrzehnt
Bilder der Veranstaltungen von damals sind heute Ikonen der Revolte, sie zeigen das Podium oben und unten umgeben von Studenten und vermitteln so den Eindruck, hier hätte sich verwirklicht, was Christus das „Reich Gottes“ und Marx die „klassenlose Gesellschaft“ nannte. Zumindest auf Ebene der Universität und am Rande der aufgewühlten Stadt scheint radikale Egalität zu herrschen, auch zwischen den Geschlechtern, was damals durchaus nicht üblich ist. So viele Studentinnen sind auf diesen Bildern zu sehen. Auch die Vereinigung der Geschlechter hat etwas Gnostisches, schon in der Bibel, die Taubes ebenso liebt wie Brecht: Der Geist weht, wo er (im Hebräischen: sie) will, und dass Frau und Mann sich erkennen, meint auch Sex in Freiheit und nach Übereinkunft. Doch auf den zweiten Blick wird in diesen versunkenen Momenten eine tiefe Melancholie sichtbar: Alle blicken aneinander vorbei ins Leere. Inmitten der Hochphase der Proteste tut sich ein Vakuum auf: Wissen die Studenten und ihre Unterstützer, wie, was sie so sehr wollen, zu erreichen sei?
Das Jahr 1968 beginnt mit einem großen Vietnam-Kongress in Berlin im Februar, auf den viele Westberliner mit totalem Unverständnis reagieren. Der Unmut richtet sich vor allem gegen Rudi Dutschke. Am Gründonnerstag, dem 11. April 1968, wird er am Ku’damm niedergeschossen. Danach kommt es während der ganzen Ostertage (als müssten die Studenten Christi Passion sowohl durchleben als auch dagegen revoltieren) zu schweren Unruhen in Westberlin und der Bundesrepublik. Von da an ist das spielerische Moment der Revolte, das Taubes mit seinem Surrealismus-Gutachten hervorgehoben hat, weitgehend verloren.
Dutschke überlebt das Attentat schwer verletzt, Marcuse, der von Paris kommend wieder in der Stadt war, besucht ihn am Krankenbett, und sie diskutieren den dortigen Mai. Dabei wird der im Vorsommer gehegte Plan, dass Dutschke in die USA gehen und bei Marcuse an der kalifornischen Universität San Diego studieren sollte, wieder aktuell. Hier spielt nun Taubes erneut eine Rolle, weil er doch auf beiden Seiten des Atlantiks wie zu Hause ist. Es kommt zu einem kurzen Briefwechsel zwischen ihm und Dutschke, der sich in seinem Nachlass erhalten hat.
Überlegungen werden angestellt, beim Deutschen Akademischen Austauschdienst ein Stipendium einzuwerben. Es würde, so Taubes, der seine Freude äußert, dass es ihm schon besser gehe, gewiss nicht leicht sein, „sogar der Playboy Gouverneur Reagan weiß, wer Rudi Dutschke ist“. Dutschke dankt und erwidert, „ja, ich existiere mehr oder weniger tatsächlich. Der Prozess der permanenten Revolution, die Möglichkeit dieser Entwicklung ist günstiger und notwendiger als die Stellung und Notwendigkeit der Einzelnen.“ Auch berichtet er von ersten Schwierigkeiten seitens der amerikanischen Botschaft. Darauf rät Taubes, zu überlegen, ob Kalifornien wirklich der richtige Ort sei, ob nicht eventuell Harvard, wo sich „das Trotzki-Archiv befindet“, ein besserer wäre. Dutschke findet das erwägenswert, „da auch Marcuse davon sprach, im nächsten Frühjahr nach Boston zu kommen“.
Alle diese Pläne zerschlugen sich. Dutschke lebt bis zu seinem frühen Tod in Dänemark. Für Jacob Taubes sollte ein bleiernes Jahrzehnt folgen. Er fühlte sich intellektuell ausgelaugt, die Universitätsreform scheiterte, K-Gruppen, RAF, ein Staat, der dagegenhielt. Mitte der 1970er hatte er einen schweren psychischen Zusammenbruch. 1977 kehrte er an die FU zurück und erlebte noch einmal zehn goldene Jahre, in denen er über Walter Benjamin, Carl Schmitt und den Apostel Paulus lehrte.
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