Denken macht gut

Evolution Auch religiöse Gebote und Glaubensvorstellungen unterliegen der Evolution. Menschliche Werte, wissenschaftlich erklärt

Einst reflektierten griechische Philosophen die vorgeblich von den Göttern sanktionierten Rechtssatzungen und entwickelten den Gedanken des „natürlichen Rechts“. Kirchenväter formulierten dann in christlicher Interpretation die Idee der „Schöpfungsordnung“. Heute haben wir eine „Wertediskussion“ und, um mit dem Münchner protestantischen Theologen und Ethiker Friedrich Wilhelm Graf zu sprechen, „konkurrenzbestimmte Moralmärkte“ sowie eine „weltweit boomende ethische Reflexionskultur“.

Von solcher Reflexion hält freilich das neue Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der Patriarch Kirill, gar nichts. Er weiß einfach, was gut und was böse ist. Auf der ökumenischen Versammlung im rumänischen Sibiu im September 2007 formulierte Kirill: „Es gibt keine Evolution der Moral“, keine „Evolution menschlicher Normen“. Das heißt, Homosexualität ist Sünde, und Priester können nur Männer sein, weil es so schon im Alten Testament steht. Das wird von der römisch-katholischen Kirche und vielen fundamentalistischen Protestanten genauso gesehen.

Mensch, wo bist du?

Seit einigen Jahren können experimentell arbeitende Biologen das Gegenteil beweisen: Es gibt eine Evolution der Moral, und sie ist Teil der biologischen Evolution. Bereits unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, haben nämlich differenzierte moralische Verhaltensweisen entwickelt. Sie haben ein ausgeprägtes Empfinden für Gerechtigkeit. Sie können den Artgenossen wie auch den Menschen gegenüber uneigennützig hilfsbereit sein. Doch muss man hinzufügen, Schimpansen sind auch nur Menschen: Nicht jedermann ist zu jedermann immer gleich freundlich. Die Primatenforscherin Jane Goodall beobachtete einst, dass ein junger Schimpanse im Zoo in einen Wassergraben gefallen war. Ein Schimpansen-Männchen sprang ihm nach und versuchte vergeblich, das Kleine zu retten. Beide ertranken. Schimpansen können nämlich nicht schwimmen. Das heißt, sein Leben für einen anderen zu geben, ist eine Verhaltensweise, zu der bereits unsere äffischen Verwandten in der Lage sind, ohne je in der Bibel gelesen zu haben.

Es gibt sogar äffische Verhaltensweisen, die wir als zutiefst menschlich ansehen, die wir jedoch schon mit den Kapuzineräffchen teilen. Deren Stammbaum trennte sich von dem des Menschen vor 35 Millionen Jahren. Doch verhalten sich bereits diese Affen, wenn man sie erfolgreich gelehrt hat, den Tausch-Wert von Münzen zu erkennen, und damit auf „Schnäppchenjagd“ zu gehen, ähnlich risikofreudig wie Menschen von heute an der Börse. Sie beharren bisweilen wider besseres Wissen ebenso irrational auf einmal getroffenen Entscheidungen wie Homo sapiens.

Beim Menschen spricht man dann von „kognitiver Dissonanz“. Ein Motiv dafür ist, jedenfalls beim Homo sapiens, selbst dem Unsinn im Nachhinein noch einen Sinn geben zu wollen. Den Psychologen um Laurie Santos von der Yale University, die mit den Äffchen experimentieren, kann der frühere US-Präsident George W. Bush, der seinen Einmarsch im Irak nach wie vor als gute Idee verkauft, zum Vergleich für solcherart Verhaltensweisen dienen. Auch das Beharren des Papstes auf seiner Entscheidung für die Pius-Bruderschaft lässt sich so verstehen.

Selbst auf die uralte menschliche Frage, wie das Böse in die Welt gekommen ist, finden Evolutionsbiologen nicht die, aber doch eine Antwort. Zu Beginn des Kambriums, vor gut einer halben Milliarde Jahren, hatten die sogenannten Phacopiden-Trilobiten, die zu den Gliederfüßern gehören, als erste Lebewesen Augen entwickelt. Sie konnten also sehen, was sie tun – und wurden zu den ersten Räubern der Erdgeschichte. Damit begann das große Fressen und Gefressen-Werden, welches das Leben bis heute bestimmt. Reflektieren kann dies freilich erst Homo sapiens. Denn nur er fragt nach dem Warum.

Er machte sich das Bild, der erste Mensch, Adam, habe im Paradies trotz des Verbots einen Apfel vom Baum der Erkenntnis verzehrt. So sei die Sünde in die Welt gekommen. Dabei geht es freilich primär um den Ungehorsam. Doch Gehorsam ist ein Ergebnis der biologischen Evolution. Jedes Alpha-Tier, selbst der Gockel auf dem Mist, verlangt die Unterwerfung aller Mitglieder seiner Gruppe. Das haben die ersten Anführer der frühen Menschen nicht anders gehalten. Ihre Herrscher verstanden sich dabei schließlich als Repräsentanten der Gottheit und Garanten einer gottgewollten Ordnung. So kam die Idee des Gehorsams Gott gegenüber als menschliche Grundtugend in die Bibel. Die jüdischen Theologen deuteten das Schicksal des Volkes Israel als jeweiliges Ergebnis ihres Gehorsams oder Ungehorsams den „göttlichen“ Geboten gegenüber. Bizarrerweise hat sich der Evangelische Kirchentag 2009 in Bremen ausgerechnet den biblischen Satz zum Motto gewählt, mit dem Gott den „Sünder“ Adam zur Rechenschaft ziehen will: „Mensch (hebräisch: Adam), wo bist du?“

Für die Menschen diente seit archaischen Zeiten das Opfern von Tieren für ihren Gott der Entsühnung. Denn die ersten Jäger bekamen beim Töten des Wilds ein schlechtes Gewissen, vom dem sie sich auf solche Weise frei machten. Mit der Deutung des Todes als „der Sünde Sold“ durch den Apostel Paulus, und seiner Interpretation des Todes Jesu als gottgewolltes Opfer für die Ursünde („Erbsünde“), die mit Adam in die Welt gekommen sei, entstanden die Fundamente christlicher „Sündentheologie“.

Das Schweigen der Kirchen

Doch die Evolution ist mit dem Auftreten von Homo sapiens als sprach- und damit in besonderer Weise kulturfähigem Lebewesen nicht beendet. Vielmehr gilt es, die Bilder, die der Mensch sich macht, Moral- aber auch Glaubensvorstellungen, in neuem Lichte zu reflektieren. Im Lichte jeweils der Erkenntnisse, die der Mensch über sich und sein Handeln gewonnen hat. Das heißt, die Ergebnisse der verschiedenen Wissenschaften anzuwenden.

Das Wissen um die Entwicklung eines Klümpchens aus Ei- und Samenzelle zu einem Menschen, wie sie heute in vielen Einzelheiten verstanden wird, hat zum Beispiel nichts mit der Glaubensvorstellung zu tun, mit der Verschmelzung werde das Zellpaar „beseelt“ – und insofern sei bereits die „Pille danach“ Mord. Oder, um ein zweites Beispiel dafür zu nennen, wie Wissenschaft ein Glaubensbild verändert: Die Erkenntnis des Naturgesetzes, dass jegliche Kommunikation mit dem Austausch von Energie verbunden ist, macht das Bild einer außen stehenden, immateriellen geistigen Macht, die sich dem Menschen offenbart, noch nicht richtig.

Seit zweitausend Jahren haben christliche Dogmatiker sich ein sehr komplexes Glaubensbild erarbeitet. Mit Beginn der Aufklärung wurde es von „liberalen“ Theologen als Ergebnis historisch-kritischer Forschung erschüttert. Die katholische Antwort darauf war die Gegenaufklärung mit dem Dogma päpstlicher Unfehlbarkeit. Eine innerprotestantische Reaktion war der vor allem im Pietismus ausgeprägte christliche Fundamentalismus.

In den letzten Jahrzehnten beginnen Theologen im deutschsprachigen Raum die Deutung des Paulus vom Opfertod Jesu im Lichte ihrer Forschungsergebnisse in Zweifel zu ziehen. Und sie verstehen neuerdings „Offenbarung“ als einen im Menschen angelegten kreativen Akt. Damit beginnt die Erkenntnis Früchte zu tragen, dass auch Glaubensvorstellungen einer – nicht biologischen aber kulturellen – Evolution unterliegen. So könnte christlicher Glaube für die Intellektuellen wieder von Interesse werden, die mit dem traditionellen Christentum nichts mehr anfangen können, aber dennoch auf der Suche sind.

Die etablierten Kirchen reagieren darauf völlig inadäquat – nämlich überhaupt nicht oder ablehnend. Sie haben Angst, orientieren sich weitgehend an ihren jeweiligen Fundamentalisten, und nennen das Suche nach Profil. Die Aufgeklärteren dagegen, und natürlich auch die Gleichgültigen, verlassen ihre Kirchen – in Deutschland zu vielen Hunderttausenden im Jahr. Zurück bleiben in der Mehrzahl die konservativen Frommen.

Von den 25 Millionen evangelischen Christen hierzulande geht eine Million sonntags in die Kirche, das sind vier Prozent. Sie wählen ihre Repräsentanten in die kirchlichen Gremien – und das sind natürlich auch eher schlichte, konservative Leute. Die Evangelische Allianz, das „Netzwerk evangelikaler Christen“ hat nach eigenen Angaben bundesweit etwa 1,3 Millionen Mitglieder, Freikirchler und Mitglieder von Erweckungsbewegungen allerdings mit eingeschlossen. Das heißt, die Anzahl der Evangelikalen und die Anzahl der evangelischen Kirchgänger stimmt in etwa überein.

Auf katholischer Seite genügt es, dass der Papst eher den Piusbrüdern und den Orthodoxen als den Protestanten zuneigt. Das heißt, auf kirchlicher Seite ist mit einer Evolution des Glaubens im Lichte zunehmender Erkenntnis nicht zu rechnen. Im Gegenteil, die Kluft zwischen Glauben und Vernunft wächst im Christentum nicht anders als im Islam, wie der Bonner Philosoph Ludger Honnefelder konstatiert, wobei der Glaube zu einem fundamentalistischen Verständnis tendiere.

Fundamentalistischen Glaubensgemeinschaften geht es vorzugsweise um Macht. Und Moralfragen sind – anders als noch beim Gockelhahn – das Mittel, Macht auszuüben. Anders als die kritischen Christen, sind die Fundamentalisten extrem machtbewusst und überdies gut organisiert. Das gilt für die katholische Kirche ohnedies, aber auch für die Protestanten.

In Brasilien wurde ein neunjähriges Mädchen von ihrem Stiefvater missbraucht und mit Zwillingen schwanger. Es bestand für das Mädchen Lebensgefahr. Und so nahmen Ärzte kürzlich bei dem Kind eine Abtreibung vor. Darauf wurden die Ärzte und alle an der Abtreibung Beteiligten vom katholischen Erzbischof der Diözese Olinda und Recife exkommuniziert.

In der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Landeskirche stand im Sommer 2008 die Bischofswahl für den Sprengel Schleswig an. Einer der beiden Kandidaten, der Hamburger Probst Horst Gorski, der überdies homosexuell ist, hatte am Karfreitag 2006 die alte paulinische Vorstellung vom gottgewollten Opfertod Jesu für die Sünden der Menschheit als „eines der größten Missverständnisse der christlichen Geschichte“ bezeichnet. Deshalb forderte der Theologe und frühere Bischof der Landeskirche, Ulrich Wilckens, die Synode auf, Gorski nicht zu wählen. So geschah es dann auch.

Zwei Beispiele für den Zusammenhang von Macht und Moral. Jesus war übrigens kein Moralapostel. Er aß vielmehr mit den „Zöllnern und Sündern“ und hat keinen von ihnen „exkommuniziert“. Er hat die Evolution der Glaubensvorstellungen seiner Zeit so weit vorangetrieben, dass damit noch zweitausend Jahre später die Menschen leben können. Jesus hatte auch keinerlei Macht besessen oder angestrebt. Er ist vielmehr an einem Freitag ohnmächtig am Kreuz gestorben.

Von Martin Urban erscheint im September das Buch Die Bibel - Eine Biographie im Verlag Galiani Berlin

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