Biotop der Mittelschicht

Grüne Die Partei arbeitet an ihrem Profil für das Wahljahr 2017. Ihre gutverdienende Klientel umwirbt sie offensiv wie noch nie
Ausgabe 45/2016
Herbstliche Harmonie in Grün-Gelb. Aber passt das auch politisch zusammen?
Herbstliche Harmonie in Grün-Gelb. Aber passt das auch politisch zusammen?

Foto: Karina Hessland/Imago

In einem Offenen Brief beschreiben linke Grüne, was sie auf der Straße zu hören bekommen: „Ihr Grünen seid nicht mehr das, was ihr mal wart.“ Das Schreiben richtet sich an die Parteispitze. Wenige Tage vor dem Programmparteitag, der am Freitag in Münster beginnt, kritisieren Linksgrüne, dass Themen wie die Friedens- und Sozialpolitik kaum noch eine Rolle spielen. Die Partei möchte in Münster das Profil festlegen, mit dem sie den Bundestagswahlkampf bestreiten will. Angesichts der Tatsache, dass man sich nicht darauf einigen kann, ob man sich konservativ, links oder liberal präsentieren möchte, stellt sich tatsächlich die Frage, was die Grünen denn nun sein wollen. Eine bessere FDP? Eine CDU light? Oder kommt es doch zu einer Rückbesinnung auf das öko-soziale Profil, mit dem die Partei immer noch assoziiert wird?

Dass der Parteitag keine Übung in Harmonie werden dürfte, zeichnet sich schon länger ab. Anfang Oktober sorgte die Einladung von Daimler-Chef Dieter Zetsche, der auf dem Parteitag über Klima- und Verkehrspolitik sprechen soll, für ersten Unmut. Daimler setzt bei seinen Autos eher auf Verbrennungsmotoren als auf Elektromobilität. In Münster wollen die Grünen beschließen, dass ab 2030 keine neuen Autos mit Verbrennungsmotor zugelassen werden sollen. Eingeladen wurde Zetsche von Parteichef Cem Özdemir. Seit einem Jahr wirbt der Realo unablässig für einen „Dialog mit der Industrie“. Für Zetsche kassierte Özdemir von den Parteilinken zu Recht den Vorwurf des „Greenwashing“. Beim Thema Ökologie funktionieren die Reflexe für den klassischen Flügelstreit immer noch verlässlich. Kurz vor dem Parteitag sorgte Winfried Kretschmann mit seinem TV-Auftritt bei Maischberger für den nächsten Eklat. Dass Kretschmann die Gelegenheit nutzte, um seine Liebe für Angela Merkel zu bekunden, war nicht überraschend. Der vom Maoismus zum Katholizismus konvertierte baden-württembergische Regierungschef betet schließlich jeden Tag für die Kanzlerin.

Für Aufregung bei seinen Parteifreunden sorgte Kretschmann nicht nur mit seiner Empfehlung für eine weitere Amtszeit der Kanzlerin sondern auch mit seiner Antwort auf Sandra Maischbergers Gretchenfrage: „Seehofer oder Ramelow?“ Erst gab er sich zögerlich, um dann mitzuteilen, über die Strecke gesehen sei ihm CSU-Chef Horst Seehofer näher als Thüringens linker Ministerpräsident. Für die Kandidaten, die sich um die Doppelspitze für die Bundestagswahl bewerben, war das ein Affront. Sie wollen die Koalitionsfrage offenhalten. Und für Jürgen Trittin, der für ein rot-rot-grünes Bündnis wirbt, war es eine Provokation. Wenn es um Rot-Rot-Grün im Bund geht, begründet Kretschmann seine Abneigung stets damit, dass die Linkspartei wegen ihrer Haltung zur Außenpolitik nicht regierungsfähig sei. Da befindet er sich in guter Gesellschaft mit der SPD, die darüber klagt, dass die Linke Auslandseinsätze der Bundeswehr ablehnt. Dass auch die Grünen lange Zeit von Auslandseinsätzen nichts wissen wollten, wird geflissentlich verdrängt. Dabei gehört zu den emblematischen Bildern der Parteigeschichte nicht nur ein Joschka Fischer, der 1985 bei seiner Vereidigung zum ersten grünen Umweltminister in Hessen Turnschuhe trug, sondern auch ein Joschka Fischer, der 1999 als Außenminister beim Bielefelder Parteitag zum Kosovo-Krieg mit einem Farbbeutel attackiert wurde.

Über die Bundeswehr wird in Münster nicht debattiert, aber die Zukunft Europas steht auf der Tagesordnung. Mit Elektromobilität und der EU lässt sich noch kein Bundestagswahlkampf bestreiten, Schwerpunktthema soll die Gerechtigkeit werden. Die Grünen scheinen sich vor allem dafür engagieren zu wollen, dass der Mitte Gerechtigkeit widerfährt. Um die „bürgerliche Mitte“ werden im kommenden Wahlkampf fast alle Parteien buhlen. Da ist es natürlich wunderbar, dass dieser unpräzise Begriff viel Spielraum für Interpretationen lässt.

Gefühlte Mitte

Das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) zählt einen Single mit einem monatlichen Nettogehalt zwischen 983 und 4.095 Euro zur Mittelschicht. Angesichts dieser großzügig veranschlagten Spanne dürfen sich zwar sehr viele angesprochen fühlen; die Lebensrealitäten zwischen dem unteren und oberen Ende dieser Mitte-Spanne liegen allerdings sehr weit auseinander. Den Grünen scheint selbst dies noch nicht auszureichen, in ihrem aktuellen Steuerkonzept wollen sie den Spitzensteuersatz bei Singles erst ab einem Jahreseinkommen von 100.000 Euro veranschlagen. Im Unterschied zu den Grünen würde selbst das DIW diese Gutverdiener nicht mehr der Mitte zuordnen, dafür verdienen sie zu viel. Özdemir meint dagegen, man dürfe die Mittelschicht nicht mit dem Rechenschieber definieren, es gebe schließlich auch eine soziokulturelle Mitte. Die wohlhabenden Lohas in den urbanen Quartieren, die zur festen Wählerklientel der Grünen gehören, können sich also ganz entspannt mittig fühlen. Allerdings sollte es der Politik vielleicht doch weniger um die Bestätigung eines Lebensgefühls und mehr um die Verbesserung der Lebensverhältnisse gehen. Abgesehen davon, dass die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder einen großen Anteil daran hat, dass sich viele Menschen am unteren Ende der Mitteskala befinden, dürfte die Ökobilanz der Armutsgefährdeten vermutlich besser ausfallen als die der gutverdienenden Grünen-Klientel. Die Armen kaufen ihre Lebensmittel vielleicht nicht im Bioladen, aber sie besitzen kein Auto und machen auch keine Urlaubsreisen in ferne Länder.

Das Thema Steuerpolitik hätten die Grünen gerne vermieden, aber wenn man über Gerechtigkeit redet, kann man über die Verteilungsfrage nicht schweigen. Zur Bundestagswahl 2013 traten die Grünen mit einem moderat linken Steuerkonzept an, nach der Wahl wurde es von der Partei als einzige Ursache für das magere Ergebnis von 8,4 Prozent ausgemacht. Schließlich gründete man eine AG für Steuern und Finanzen, die nach zweieinhalb Jahren ein Steuerkonzept für eine „soziale, ökologische, generationengerechte Gesellschaft“ vorlegte. Bisher konnten sich die Spitzenpolitiker nicht einigen. Widerstand von den Realos aus dem Südwesten kam gegen die Wiederbelebung der Vermögensteuer. Uneinig ist man auch über ein Modell zur Abschaffung des Ehegattensplittings. Früher wurde es in der Partei nicht nur wegen seines Antifeminismus kritisiert, sondern auch, weil Normalverdiener davon nicht profitieren. Nun soll der Parteitag eine Einigung der strittigen Punkte erreichen. Stoff für einen Richtungsstreit gibt es reichlich. Wobei die Realos nach dem Wahldesaster von 2013 bereits eine Richtung vorgegeben hatten. Die Grünen sollten liberal werden und die Nische besetzen, die die FDP nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag hinterlassen hatte. Für den Wahlkampf 2017 riet Kretschmann der Partei, sie solle in den Grundsätzen elastisch und flexibel werden und sich auf die Mitte konzentrieren. Schon Übervater Fischer forderte in der Anfangszeit der Partei, die Grünen müssten sich zur „besseren FDP“ mausern und den neuen Mittelstand als Zielgruppe anvisieren. 1988, im Zuge des politischen Streits mit Parteilinken wie Thomas Ebermann, wurde Fischer konkreter. Im Spiegel sagte er, es ginge auch darum, gefühlsradikale Zahnarztgattinnen zu erreichen.

Im Januar wird das Ergebnis der Urwahl, die über die beiden Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl entscheidet, verkündet. Wegen der Quotierung ist Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt gesetzt. Um den Platz an ihrer Seite konkurrieren Co-Frakionschef Anton Hofreiter, Schleswig-Holsteins Umweltminister Robert Habeck und Cem Özdemir. Es ist bezeichnend, dass mit Hofreiter nur ein Linksgrüner dabei ist. Sollten die rund 60.000 Parteimitglieder für Özdemir votieren, wäre das im Duo mit Göring-Eckardt ein Signal für Schwarz-Grün. Im gleichen Monat feiert die Partei ihren 37. Geburtstag. Menschen entwickeln in diesem Alter oft Symptome einer Midlife-Crisis. Parteien scheint es nicht anders zu gehen. In den achtziger Jahren haben sicher nicht viele Grüne davon geträumt, einmal Wahlkampf für Zahnarztgattinnen mit Charity-Ambitionen zu machen.

12 Monate für € 126 statt € 168

zum Geburtstag von F+

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden