Sie ist Vorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW). Bis zu ihrem Amtsantritt 2013 hat Marlis Tepe als Hauptschullehrerin in Schleswig-Holstein unterrichtet – und weiß nicht erst seitdem, dass Schulen mit mehr zu kämpfen haben als langsamem Internet und Lehrermangel.
der Freitag: Frau Tepe, vom digitalen Klassenzimmer hat man eine Vorstellung: Whiteboard statt Kreidetafel, Tablet statt Schulheft. Wie digital ist der Unterricht hierzulande inzwischen?
Marlis Tepe: Es gibt einzelne Schulen, an denen in den vergangenen Jahren viel passiert ist. Das lag aber oft vor allem daran, dass engagierte Lehrer und Lehrerinnen dort in Eigeninitiative die Digitalisierung vorangebracht und pädagogische Konzepte dafür entwickelt haben. Natürlich funktioniert der Einsatz digitaler Medien im Unterricht nicht ohne W-Lan, Netzwerkverkabelungen und schnelles Internet. Eine gut funktionierende digitale Infrastruktur gibt es an sehr vielen Schulen hierzulande noch gar nicht.
Zur Person
Marlis Tepe, Jahrgang 1954, ist seit 2013 Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Bis zu ihrem Amtsantritt unterrichtete sie als Hauptschullehrerin in Schleswig-Holstein. Die GEW hat über 280.000 Mitglieder, die größte Gruppe stellen dabei Lehrerinnen und Lehrer
Für den Ausbau der Infrastruktur sollen ja jetzt die Mittel aus dem Digitalpakt sorgen. Fließt schon kräftig Geld in die Schulen?
Das geht sehr langsam voran. Der Digitalpakt ist im Mai in Kraft getreten und dann mussten zwischen dem Bund und den einzelnen Ländern erst mal Vereinbarungen zum Ablauf und zum Antragsverfahren festgelegt werden. In einigen Bundesländern hat das lange gedauert. Die Schulträger konnten also gar keine Anträge für Mittel stellen, solange noch nicht klar war, wie die Antragstellung funktioniert.
Setzen die einzelnen Bundesländer auf ähnliche Strategien?
Nein. In Hessen zum Beispiel verfährt man nach dem Prinzip Gießkanne, da wird das Geld pro Schüler verteilt, in Thüringen hat man sich für Pilotschulen entschieden. Jedes Land hat mit dem Bund ein eigenes Verfahren ausgehandelt. Und das lief – zu unserem großen Bedauern – nicht sehr beteiligungsorientiert. Dabei wäre es klug gewesen, die Mitbestimmungsgremien, in denen Lehrkräfte aller Schularten vertreten sind, einzubeziehen. Schließlich wissen die genau, was sie brauchen. Systemadministratoren, die die Schulen betreuen, zum Beispiel. Wie groß ist der Freitag?
Kleiner als eine Schule. Warum fragen Sie?
Große Berufsschulen, Gesamtschulen oder Gymnasien haben 1.600 Schülerinnen und Schüler. Wie soll dort digitales Arbeiten und Lernen funktionieren, wenn es keine Administratoren gibt, die sich um die Wartung und den IT-Support kümmern?
Bei den fünf Milliarden Euro des Bundes für den Digitalpakt ist das nicht mit vorgesehen?
Das ist dort sehr vage formuliert, aber wegen des Kooperationsverbots ist es nicht erlaubt, mit Bundesmitteln Personal einzustellen. Deshalb müssen sich nun die Schulträger auf die Suche nach Systemadministratoren machen. Angesichts des Fachkräftemangels in dieser Branche ist das kein leichtes Unterfangen.
Wie steht’s um das Primat der Pädagogik bei der Digitalisierung?
Es gibt Schulen, die sich schon auf den Weg gemacht haben und weit gekommen sind. Ich habe eine Schule in Schleswig-Holstein und eine in Baden-Württemberg besucht, die digitalisierte Lerneinheiten einsetzen. Die Schülerinnen und Schüler rufen ihre Lernprogramme auf und arbeiten dann eigenständig im Programm. Diese Schulen streben ein hochgradig individualisiertes Lernen an und gewinnen Zeit für die Beratung.
Der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg glaubt, es dauert nicht mehr lange, bis sich Kinder mit digitaler Technik vollständig selbst unterrichten.
Man sollte nie vergessen, dass das Lernen ein sozialer Prozess ist. Und der darf bei der Individualisierung nicht verloren gehen. Die Digitalisierung wird Lehrerinnen und Lehrer nicht ersetzen, aber sie erfordert von den Lehrkräften ein anderes Arbeiten. Man steht nicht mehr frontal vor der Klasse, sondern setzt sich viel intensiver mit den einzelnen Schülerinnen und Schülern auseinander.
Wie gut sind die Lehrkräfte darauf vorbereitet?
Bei Befragungen wird von Lehrerinnen und Lehrern immer ganz deutlich der Wunsch nach Qualifizierung geäußert – und das finde ich auch sehr ehrlich. Wir haben viele Ältere, die sicher weniger digital unterwegs sind als ihre Schülerinnen und Schüler. Da muss in den Lehrerfortbildungsinstituten noch viel passieren. Aber dort steht man angesichts des Bedarfs vor dem Problem, wie man die Fortbildungen organisiert. Die GEW sieht das sehr kritisch, wenn dann Konzerne wie Apple und Co. bei der Fortbildung der Lehrkräfte mitmischen.
Bringen die Schüler ihre eigenen Tablets mit?
Ich war in einer Schule in Duisburg-Marxloh zu Besuch, da gab es einen Tabletwagen für drei Klassensätze. Die Lehrerin konnte den für eine Stunde buchen, danach wurden die Geräte wieder eingesammelt. Es gibt aber auch Bundesländer, die setzen auf „Bring your own device“, das heißt, die Schüler lernen mit ihren eigenen Tablets, die von ihren Eltern finanziert werden müssen.
Damit werden finanzschwache Familien belastet.
Das sieht die GEW auch sehr kritisch. Wir erwarten, dass es eine echte Lernmittelfreiheit gibt, die einen Beitrag zu mehr Chancengleichheit leistet. Das größte Drama in unserem Bildungssystem ist, dass die soziale Herkunft der Kinder bis heute über ihren Schulerfolg entscheidet. Ich habe auch den Eindruck, dass Schulen, die in ärmeren Kommunen liegen, gleich mehrfach diskriminiert werden.
Weil der Lehrermangel an Brennpunktschulen größer ist?
Ja. Für Berlin gibt es eine Untersuchung, die festgestellt hat, dass bei diesen Schulen die Einstellungsquote von Quer- und Seiteneinsteigern viel höher ist als an anderen Orten. In Nordrhein-Westfalen sind im Regierungsbezirk Detmold, zu dem Schulen im ostwestfälischen Speckgürtel gehören, 100 Prozent der Grundschulstellen besetzt. Im Regierungsbezirk Düsseldorf liegt die Quote dagegen bei 56 Prozent, im dazugehörigen Duisburg ist sie noch niedriger.
Wohlhabende Regionen haben beim Kampf um Lehrkräfte also einen Standortvorteil?
Genau. Deswegen fordern wir auch zusätzliche Bildungsinvestitionen für eine Unterstützung nach Sozialindex. Auch, um die Schulen, die in ärmeren Regionen liegen, für Lehrkräfte attraktiver zu machen. Die GEW hat in Hessen untersucht, wie viel Geld die Kommunen und Kreise als Schulträger für Bau und Sanierung der Schulgebäude bereitstellen. Im Hochtaunuskreis waren die Ausgaben am höchsten. Dort wohnen die wohlhabendsten Menschen Hessens, die ihren Kindern ohnehin aus privaten Mitteln das Beste finanzieren können. Während Schulen in ärmeren Gegenden marodere Gebäude mit schlechterer Ausstattung haben und besonders vom Lehrermangel belastet sind.
Der Investitionsbedarf für Schulen liegt bei 42 Milliarden Euro ...
... ja, und es gibt Kinder, die trauen sich nicht mehr, während der Schulzeit etwas zu trinken, weil es keine benutzbaren Toiletten an ihrer Schule gibt.
Immerhin, in Sachsen-Anhalt läuft ein Volksbegehren gegen den Lehrermangel.
Ja, das ist im Januar gestartet, die Frist für die Unterschriftensammlung endet im Juli. Die Kollegen vor Ort berichten, dass sie sehr viel Zuspruch erhalten, nicht nur von Eltern. Das Thema Schule bewegt die Gesellschaft.
Das Volksbegehren zielt darauf, dass die Personalstärke für Schulen gesetzlich festgeschrieben wird. Sollte das klappen, fehlen aber immer noch die Lehrer für die Stellen, oder?
Es geht auch darum, den Bedarf deutlich zu machen. Es gab einen Zeitraum von zehn bis 15 Jahren, in dem in den ostdeutschen Bundesländern fast gar keine Lehrkräfte eingestellt wurden. Nach 1989 kam der Geburtenknick, und als die Geburtenrate stieg, hat man zu spät gehandelt. Die Gefahr in Zeiten des Lehrermangels ist, dass der Bedarf kaschiert wird. In Sachsen zum Beispiel hat man die Stundentafel und Ausgleichsstunden gekürzt, in einem Umfang von 2.000 Stellen. Diese Stellen sind nicht mehr sichtbar, entsprechend erscheint der Lehrermangel nicht mehr ganz so groß. Es ist wichtig, dass der sogenannte Schweinezyklus endet. Man sieht die Folgen, wenn Lehrkräfte nicht permanent eingestellt werden, ja erst, wenn es brennt.
Gibt es eigentlich genug Studienplätze für das Lehramt?
Nein. In Baden-Württemberg gibt es sogar einen Numerus clausus für Grundschulpädagogik. Das muss man sich in Zeiten des Lehrermangels, der an Grundschulen ja besonders einschlägt, erst einmal vor Augen führen. Das Lehramtsstudium muss für die Universitäten wieder attraktiv gemacht werden. Diese Studiengänge anzubieten, ist für die Hochschulen wenig reizvoll, weil sie darüber kaum Drittmittel einwerben können.
Die Bildung unserer Kinder ist der Schlüssel für die Zukunft der Gesellschaft, das ist eine geflügelte politische Redewendung.
Ja, wenn die FDP in ihren Wahlprogrammen „weltbeste Bildung“ fordert oder die CDU mit „bester Bildung“ wirbt, ist da eine Diskrepanz zum Schulalltag. Die Bildungspolitik ist oft entscheidend bei Landtagswahlen, vielleicht ist das ein Grund, warum man sich nicht „ehrlich macht“. Klar ist jedenfalls, es braucht umfangreiche Investitionsprogramme für die Schulen und die Sanierung. Auch die fünf Milliarden des Digitalpakts sind viel zu niedrig veranschlagt. Bei unseren Berechnungen würde diese Summe allein schon für die digitale Infrastruktur der Berufsschulen benötigt. Für die Digitalisierung der Schullandschaft liegt der Bedarf bei insgesamt über 20 Milliarden Euro. Und die Mittel müssen verstetigt werden. Der Digitalpakt läuft nur bis 2023. Nachhaltig ist das nicht.
Wann hat die Misere der Schulen eigentlich angefangen?
Die Implementierung der Schuldenbremse vor zehn Jahren hat die Situation verschärft. Aber das große Sparen begann Anfang der 2000er Jahre. Da wurden nicht nur Stellen in den Kommunalverwaltungen und den Schulverwaltungen abgebaut. Es herrschte das Credo, Schulen und Universitäten sollen autonomer werden. Mit der Folge, dass sie immer mehr Eigenverantwortung bekamen, aber auch immer mehr Aufgaben.
Nach Thüringen denkt man auch an den Druck der AfD auf Schulen. Stichwort: Meldeportale.
Wenn Lehrkräfte auf den AfD-Meldeportalen denunziert werden, geht es um Einschüchterungsversuche. Die AfD beruft sich auf das Neutralitätsgebot, aber Neutralität heißt nicht Wertneutralität. Lehrerinnen und Lehrer dürfen durchaus antidemokratische Tendenzen zum Unterrichtsthema machen. Sie haben den staatlichen Erziehungsauftrag, die jungen Menschen zu guten und mutigen Demokratinnen und Demokraten auszubilden. In Hamburg gab es ja das erste dieser Meldeportale, und da fällt auf, dass die AfD zig kleine Anfragen im Senat gestellt hat, um Lehrkräfte oder Schulen zu beschuldigen. In Sachsen gibt es mehrere Hundert Anfragen der AfD. Damit hält sie die Kultusbehörden auf Trab, die auf jede Anfrage rechtssicher antworten müssen.
Sind die jungen Wähler der AfD auch Teil des Bildungsproblems?
Politische Bildung ist in Deutschland das Unterrichtsfach, das am häufigsten fachfremd, also von Lehrkräften, die nicht entsprechend ausgebildet sind, unterrichtet wird. Deshalb fordern wir, dass das Fach wieder stärker in der Ausbildung vertreten sein muss. Alle Schulgesetze haben als Zielbestimmung die Erziehung zur Teilhabe an der Gesellschaft, zur Selbstverantwortung und zur Mitverantwortung für die Gesellschaft. Aber seit Pisa sind diese Ziele in den Hintergrund geraten.
Warum?
Die Politik hat sich bei den Konsequenzen, die sie aus den schlechten Pisa-Ergebnissen gezogen hat, auf die Kompetenzen konzentriert, die bei den Tests geprüft werden: Deutsch, Lesen und Rechnen. Nach dem Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und dem Erstarken rechtsextremer und religiös-fundamentalistischer Bewegungen haben Europas Bildungsminister die „Erklärung zur Förderung von politischer Bildung und der gemeinsamen Werte von Freiheit Toleranz und Nichtdiskriminierung“ verabschiedet. Das war 2015, spürbar ausgewirkt hat sich das an den Schulen bisher aber kaum.
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