Das Unbehagen in gewissen Sportkostümen

Sexismus Eine Turnerin sorgte für Aufsehen, als sie bei der EM im Ganzkörperanzug antrat. Dabei ist diese Entscheidung nur allzu verständlich
Ausgabe 18/2021

„Gymnastikanzug“ ist ein Triggerwort. 80 Prozent Polyester, 20 Prozent Spandex, ein dünner, hautenger Stoff, unter dem sich jede Rippe und jede Rundung abzeichnet. Sagt man „Gymnastikanzug“, kommt ein mitfühlend und zugleich wissend klingendes „Ooh“, das man sonst meist aus Gesprächen über Wurzelbehandlungen kennt. Welche Reaktionen allein das Wort auslöst, wurde mir erst bei den Turn-Europameisterschaften klar. Ende April sorgte Sarah Voss für Aufsehen, als sie bei der EM im langen Ganzkörperanzug antrat. „Als kleines Mädchen fand ich die knappen Turnanzüge nicht so hochdramatisch. Aber als die Pubertät begann, als die Periode dazukam, da hatte ich zunehmend ein ungutes Gefühl“, sagte sie dem ZDF.

Dieses Unbehagen im Badeanzug-artigen Kostüm scheint Frauen vom Breiten- bis zum Leistungssport zu verbinden. Nach dem, was Freundinnen und Kolleginnen zum Stichwort Gymnastikanzug so einfiel, bin ich froh, dass sich bei mir nie ein Hauch turnerischen Talents angedeutet hat. Aber es gab diese Schulaufführung, für die uns die Sportlehrerin zu einer Tanz-Performance nötigte. 1987, Eye of the Tiger. Warum sie für Mädchen im Alter von zwölf bis 13 einen fünf Jahre alten Boxfilm-Song auswählte, blieb ihr Geheimnis. Warum sie sich bei unseren Kostümen von Jane Fondas Aerobic-Outfits inspirieren ließ, ebenfalls. Zumindest fühlten wir uns damit auf der Bühne mulmig wie Rocky Balboa im Ring. Die Religionslehrerin sagte danach trostspendend: „In drei Tagen spricht niemand mehr darüber.“ Damit lag sie falsch. Unsere Mitschüler brauchten dafür etwa ein Jahr, zum Glück war es eine Jugend ohne Internet.

Elisabeth Seitz, Teamkollegin von Sarah Voss, sprach schon vor der EM über sexistische Sportfotografie. Ein Klassiker unter den Bildern im Netz: Die Kamera zielt beim Spagatsprung auf den Schritt. Der Auftritt mit langen Hosen wurde als Zeichen, gar als Revolution im Frauenturnen gewertet. Diese Eigeninitiative der Turnerinnen passe hervorragend zu seinen Aktionen in Sachen Prävention gegen sexualisierte Gewalt, fand ihr Verband. Dafür braucht es aber mehr als den Abschied vom knappen Trikot. Am Chemnitzer Olympia-Stützpunkt gibt es Vorwürfe von Diätzwang bis Psychoterror, aus anderen Ländern hört man Ähnliches. Auf Netflix rekonstruiert die Doku Athletin A den Missbrauchsskandal im US-Turnen, die Spuren reichen bis in die 1990er Jahre. 1997 gab es übrigens ein Musikvideo der Chemical Brothers (Regie: Spike Jonze) mit Sofia Coppola als Kunstturnerin. Ein Meisterwerk, in dem Coppola nur eine Kür braucht, um den Abgrund zwischen Empowerment und Verletzlichkeit in dieser Sportwelt zu zeigen.

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