"Eine Ökonomie des Gemeinsamen ist möglich"

Interview Die Digitalisierung birgt Chancen auf mehr Zeitwohlstand und Gerechtigkeit, sagt die Linken-Chefin Katja Kipping – nicht aber mit dem blinden Technikoptimismus der FDP
Ausgabe 35/2017

Paketboten, die gehetzt Amazon-Bestellungen ausliefern, sind heute aus dem Straßenbild nicht mehr wegzudenken. Plattformökonomien haben ein Heer von unsichtbaren Crowd- und Clickworkern geschaffen, die als unterbezahlte Soloselbstständige sämtliche Risiken ihrer Tätigkeit tragen. Und Home Office wie Smartphone lassen den Arbeitstag kein Ende nehmen. Wie kann da nur die Linke Katja Kipping behaupten, Digitalisierung müsse keine Drohkulisse sein, sie liefere Chancen für eine bessere und gerechtere Arbeitswelt? Mit der Arbeitsgruppe Digitalisierung ihrer Partei hat sie eine Agenda verfasst, deren Ziel es ist, dass die Gewinne der Modernisierung nicht nur den Konzernen, sondern allen zu Gute kommen.

der Freitag: Frau Kipping, Eltern fällt es heute schwer, die Berufe ihrer Kinder zu verstehen und zu beschreiben, was etwa ein Interface-Designer oder eine Backend-Programmiererin macht.

Katja Kipping: Das droht mir auch, mit meiner Tochter hatte ich vor kurzem ein Gespräch, es ging um Fidget Spinner. Ich wusste nicht, dass das Handkreisel sind, sie schon. Da habe ich gedacht: Das geht jetzt exponentiell so weiter. Wahrscheinlich wird sie irgendwann einen Beruf haben, von dem man heute noch keine Vorstellung hat und mit Technik arbeiten, die es heute noch gar nicht gibt.

Viele fürchten, Massenarbeitslosigkeit werde bald die Arbeitswelt kennzeichnen. Sie sehen in der Digitalisierung Chancen auf eine solidarische Ökonomie. Warum?

Dass die technische Entwicklung uns schwere körperliche Arbeit abnehmen kann, ist doch wunderbar. Dieser Fortschritt macht mehr Zeitwohlstand möglich. Die Digitalisierung bringt eine Vernetzung und Schnelligkeit im Wissensaustausch, die uns alle bereichern können, auch in den entlegenen Teilen der Welt. Zudem führt sie uns vor Augen, wie abstrus die künstliche Verknappung von Gütern ist. Im Gegensatz zu einem Apfel, der nur einmal gegessen werden kann, gibt es bei digitalen Gütern keine physischen Grenzen. Wissen ist eine Ressource, die größer wird und sich schneller verbreitet, wenn man sie teilt. Daraus ergibt sich digital und analog eine Perspektive für die Ausweitung der Gemeingüter und eine Ökonomie des Gemeinsamen. Es geht um den Einstieg in andere Formen des Eigentums und des Produzierens.

Zur Person

Katja Kipping , 39, hat nach einem Freiwilligenjahr nahe St. Petersburg Slawistik, Amerikanistik sowie Jura studiert, in ihrer Heimatstadt Dresden. In Uni- und Umweltprotesten betrieb sie außerparlamentarische Politik, trat mit 20 der PDS bei und wurde mit 21 in den Stadtrat Dresden und den Sächsischen Landtag gewählt. Dem Bundestag gehört sie seit 2005 an, 2012 übernahm sie mit Bernd Riexinger die Parteiführung der Linken. Kipping lebt mit Mann und Kind in Dresden und Berlin

Sie haben offenbar Ihren Paul Mason gelesen.

Ja, ich habe ihn auch getroffen und finde, viele der Vorschläge in seinem Buch Postkapitalismus sind inspirierend. Er ist eine linke Stimme, die sich nicht in Defätismus wälzt, sondern voller Optimismus ist. Das ist toll. Aber ich habe den Eindruck, dass er die Widerstände der ökonomisch starken Kräfte ein wenig runterspielt. Dass viele die Digitalisierung als Bedrohung empfinden, sagt ja viel über die gesellschaftlichen Verhältnisse aus.

Beschäftigte assoziieren digitales Arbeiten mit Überwachung, Druck und enormem Stress, ergab eine Befragung der IG Metall.

Wir als Linke wollen, dass die Früchte des Fortschritts allen zugutekommen. Die Potenziale der Digitalisierung werden unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen und den Produktionsbedingungen in ihr Gegenteil verkehrt: mehr Konkurrenzdruck, um die Gewinne zu steigern. Das Problem ist aber nicht die Digitalisierung, sondern wie sie im Neoliberalismus und Kapitalismus eingesetzt wird. In einer anderen Studie der IG Metall sagten die Beschäftigten übrigens, dass sie sich mehr Zeitwohlstand wünschen. Wir brauchen eine Arbeitszeitverkürzung, die 30-Stunden-Woche ist ein wichtiger Schritt. Damit geht eine gerechtere Arbeitsverteilung einher: zwischen den Über- und den Unterbeschäftigten, zwischen Männern und Frauen.

Feministinnen hofften, das Home Office könnte ein Ausweg aus der männlichen Präsenzkultur sein.

Aus dem Home Office ist leider eine Art Dauerstandleitung geworden. Es gibt das Phänomen der rushing woman – Frauen, die rennen und rennen, aber gefühlt nicht vorankommen. Das zeigt, keine Technik nimmt uns den Kampf ab. Es ist aber schön, dass immer mehr Frauen sagen: Ich bin Feministin und kämpfe dafür, dass es in Erwerbs- und Care-Arbeit eine gerechtere Verteilung gibt.

Die Arbeitgeber wollen die Arbeit auf Abruf ausweiten und den Achtstundentag abschaffen.

Marxistisch ausgedrückt: Die Kapitalseite wird immer jede Entwicklung nutzen wollen, um ihre eigene Situation zu stärken und immer mehr aus der Arbeit der Beschäftigten rauszuholen. Deswegen ist es jetzt wichtig, zu regulieren, also Arbeitsschutzrechte auszuweiten: Die Rechte auf Auszeiten, Feierabend und abgesprochene Nichterreichbarkeit müssen gesetzlich geregelt und von den Beschäftigten in Tarifkämpfen erstritten werden. Wenn es um die Kultur ständiger Erreichbarkeit geht, sind wir Politiker und Politikerinnen gefragt, etwas anderes vorzuleben.

Was wollen Sie dagegen tun, dass Solo-Selbstständige längst zu widrigen Bedingungen bei Plattformen wie Foodora arbeiten?

Die Anbieter von Dienstleistungen müssen wir verpflichten, dass sie die Leute sozialversicherungspflichtig anstellen! Es gibt mehr als zwei Millionen Solo-Selbstständige, viele leben an oder unter der Armutsgrenze, wir wollen daher Mindesthonorarsätze für sie. Es darf keine neue Klasse von Dienstboten entstehen.

Im Wahlkampf fällt beim Thema Digitalisierung ja eher die FDP als die Linke auf ...

Oh, ich bitte Sie, wir setzen nicht auf blinden Technikoptimismus wie die FDP. Wir wollen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass digitale Güter wie der 3D-Drucker dem Gemeinwohl dienen. Das ist unser originärer Ansatz: die Früchte der Digitalisierung allen zugutekommen zu lassen.

Derweil kapern CDU und FDP mit den Grünen ein weiteres linkes Projekt: Die Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein testet das bedingungslose Grundeinkommen per Modellprojekt.

Wahrscheinlich wird dort erst mal eine Kommission eingerichtet und ob es dann ein Modellprojekt geben wird, wie dieses aussieht, das ist offen, es gibt keine Aussagen zur Höhe des Grundeinkommens. Man muss auf Etikettenschwindel achten. Ich habe mich gefreut, dass es in Thüringen den Vorstoß aus der Linken gibt, dort ein Modellprojekt zum BGE zu starten. Es gibt ein parteiübergreifendes Bündnis, das Kriterien festgelegt hat, ab wann man überhaupt von einem Grundeinkommen sprechen kann. Es muss ein individuelles Recht sein, ohne Bedürftigkeitsprüfung, ohne Pflicht zur Gegenleistung und es muss gesellschaftliche Teilhabe gewähren.

Wie hoch muss ein BGE sein?

Nach den verschiedenen Berechnungen zur Armutsrisikogrenze kann man ab rund 1.050 Euro von Armutsfestigkeit sprechen.

Der Armutsforscher Christoph Butterwegge, der für die Linke als Bundespräsident kandidierte, ist scharfer Kritiker des BGE. Ist Ihre Partei nun dafür oder dagegen?

Wir haben noch nicht entschieden, ob es eine Mehrheiten- oder eine Minderheitenposition ist. Es gibt glühende Befürworterinnen und leidenschaftliche Gegner. Ich gehöre zu Ersteren. Ich finde, dass das Grundeinkommen eine tolle Idee ist, weil es die Demokratie stärkt. Damit man sich politisch einbringen kann, braucht es ein Mindestmaß an finanzieller Absicherung, unabhängig davon, ob man auf dem Erwerbsarbeitsmarkt Erfolg hat oder ob man sich beim Amt als williger Untertan bewiesen hat. Das BGE ist eine Demokratie-Pauschale. Den Vorwurf, es ersetze den Sozialstaat, finde ich falsch. In allen linken Modellen zum BGE sollen die bestehenden Sozialversicherungen damit nicht ersetzt, sondern ergänzt werden. Alle gehen davon aus, dass das reichste Drittel der Gesellschaft dabei draufzahlt und alle darunter davon profitieren würden. Es ist also ein zutiefst linkes Projekt.

Heute wird sanktioniert, wer nicht pariert.

Dagegen kämpfen wir. Niemand soll gezwungen werden, Arbeit zu schlechten Bedingungen anzunehmen. Auch potenziell Beschäftigte müssen wehrhaft sein. Die Linke ist für die Sanktionsfreiheit bei Hartz IV, die grüne Basis hat es bei ihrer Parteiführung durchgesetzt, die Sozialverbände und der DGB kritisieren die Sanktionen. Es gibt ein breites gesellschaftliches Bündnis für ihre Abschaffung, im Bundestag jedoch lehnen Union und SPD das ab. Aber Sanktionsfreiheit ist ein wichtiger Schritt, auch um Herausforderungen der digitalen Arbeitswelt zu begegnen.

In der digitalen Welt geht es um Daten. Aber sind Datenschutz und -sparsamkeit nicht längst zu einer Illusion geworden?

Nein, aber die Schwierigkeiten, vor denen wir persönlich stehen, sind nicht zu leugnen: Habe ich mehr Angst, dass ein Geheimdienst meine Daten hackt, oder davor, bei zig Passwörtern den Überblick zu verlieren und nicht mehr an meine Daten zu kommen? Was die Arbeitswelt betrifft, wünsche ich mir in den Personalabteilungen von Unternehmen mehr Zurückhaltung. Natürlich sollte jeder wissen, dass das Internet nichts vergisst. Aber ein unbedachter Post kann jedem mal passieren. Der Datenschutz für Beschäftigte muss dem Entwicklungsstand der Überwachungstechnik angepasst werden.

Menschen lassen doch längst bewusst per Self-Tracking Daten über Sportaktivitäten und den Kalorienverbrauch sammeln.

Literatur ist ein guter Seismograf dafür, wohin die Reise gehen kann. Ich denke an Corpus Delicti von Juli Zeh, da geht es um das Sammeln von Bio-Daten und einen Staat, der eine Gesundheitsdiktatur errichtet. Das zeigt, wie wichtig es ist, Schranken zu setzen. Solche Daten dürfen nie zu Behörden oder Krankenkassen gelangen.

Ist Selbstoptimierung nicht schlicht neoliberale Verheißung?

Sie ist eine subtilere, aber beinahe grausamere Art von Herrschaft. Wer von Vorgesetzten unter Druck gesetzt wird, kann revoltieren. Aber was, wenn der Kontrolletti in einem selbst permanent zu Höchstleistungen antreibt? Da braucht es eine Kulturrevolution.

Das Gespräch führte Martina Mescher

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