Freiheit für die Jungen, Isolation der Alten?

Coronakrise Der 250. Geburtstag Hegels geht dieser Tage unter. Was hätte er zur derzeitigen Situation gesagt?
Ausgabe 16/2020
Boris Palmer schwebt ein „neuer Generationenvertrag“ vor, der Betroffenen einen heroischen Akt abverlangt: Menschen ab 65 sollen ihre Freiheitsrechte abgeben
Boris Palmer schwebt ein „neuer Generationenvertrag“ vor, der Betroffenen einen heroischen Akt abverlangt: Menschen ab 65 sollen ihre Freiheitsrechte abgeben

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Woran Hegel gestorben ist, wissen wir nicht. War es die Cholera oder doch eine chronische Magenerkrankung? Es ist ein eigenwilliger Zufall, dass sein 250. Geburtstag in die Zeit einer Pandemie fällt. Wegen Corona wurden sämtliche Veranstaltungen zum Hegel-Jahr abgesagt, entsprechend leise fällt die Debatte über Hegels Aktualität aus. Angesichts der lauten Rufe nach Lockerung des Lockdown ist das zu bedauern. Im Namen der Freiheit wird viel gefordert, aber welche Vorstellungen von Freiheit dabei mitschwingen, wird kaum hinterfragt. Bedeutet Freiheit, dass jeder tun kann, was er will?

Das wäre, frei nach Hobbes, die Freiheit als Willkürfreiheit. Dem hat Hegel entgegengehalten: „Das Belieben des Einzelnen ist eben nicht Freiheit.“ Hegel zielt auf einen sozialen Begriff der Freiheit. Deren Verwirklichung besteht für ihn in einer Form des Zusammenlebens, die er „Sittlichkeit“ nennt. In der Sprache der Moderne heißt das: Freiheit ist kein Egotrip. Menschen sind soziale Wesen, selbstverständlich leiden sie unter der staatlich verhängten Kontaktsperre.

Hegel, der Freiheit immer mit Vernunft verknüpft hat, dürfte sich wohl verzweifelt in seinem Grab umdrehen. Wie vernünftig ist es, das „öffentliche Leben wieder hochzufahren“, wenn klar ist, dass der Höhepunkt der Epidemie hierzulande noch nicht stattgefunden hat und in den Kliniken bereits die Empfehlungen für das ethische Problem der Triage vorliegen, für die Entscheidung, welchem Patienten der Vorrang gegeben wird, wenn Intensivbetten und Beatmungsgeräte nicht für alle reichen?

Die Menschen brauchen eine Aussicht auf Wiederherstellung der Normalität – das ist ein bestechendes Argument für Ausstiegspläne. Schließlich sollte die Hoffnung immer zuletzt sterben. Die Debatte begann aber damit, Menschenleben gegen Ökonomie auszuspielen. Inzwischen steht die Frage im Raum, ob die Mehrheit der Bevölkerung die Beschränkungen der Freiheitsrechte für eine Minderheit auf sich nehmen muss. Mit Blick auf Risikogruppen scheint es weniger um ihr Risiko einer schweren Erkrankung zu gehen, vielmehr um die Frage, ob sie ein Risiko für die Freiheit der vermeintlich weniger Gefährdeten darstellen. Das klingt nicht nach einem Beruhigungsszenario für eine von der Kontaktsperre erschöpfte Gesellschaft, sondern nach Drohkulisse – nicht nur, weil geschätzt die Hälfte der Bevölkerung in die Kategorie Risikogruppe fällt.

Freiheit für die Jungen, Isolation der Alten, dieses Gedankenspiel deutete der Kanzleramtsminister an. Die Bild lancierte einen Appell prominenter Senioren an ihre Altersgenossen, damit die Wirtschaft wieder in Schwung kommt, während sich Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer schon von der Freiwilligkeit verabschiedet hat. Ihm schwebt ein „neuer Generationenvertrag“ vor, der Betroffenen einen heroischen Akt abverlangt: Menschen ab 65 sollen ihre Freiheitsrechte hergeben, die Jüngeren revanchieren sich damit, eine Infektion zu riskieren. Damit will er bald Herdenimmunität erreichen, eine Strategie, die das Gesundheitssystem schnell zum Kollabieren bringen könnte.

Von der Isolation der Älteren nehmen die Leopoldina-Wissenschaftler, die die Regierung beraten, denn auch Abstand. Ihnen dürfte aufgefallen sein, dass allein historisch gesehen die Forderung nach Selbstaufopferung unserer Demokratie nicht würdig ist. Ihre wirtschaftspolitischen Empfehlungen sind aber ebenfalls eine Verdrängungsleistung. Anscheinend ist ihnen entgangen, dass der neoliberale Kurs im Gesundheitswesen uns dieses Dilemma erst eingebrockt hat.

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