Friedhof der Aufmüpfigen

Neue Linke Niemand hat Normen so radikal hinterfragt wie die 68er, findet Wolfgang Kraushaar
Ausgabe 18/2018
Inspiriert von Uwe Timms Roman „Rot“ lässt Kraushaar sein Buch an den Gräbern von Protagonisten der Bewegung enden
Inspiriert von Uwe Timms Roman „Rot“ lässt Kraushaar sein Buch an den Gräbern von Protagonisten der Bewegung enden

Foto: Stefan Zeitz/Imago

Ganze hundert Seiten für 1968, reicht das zur Reflexion? Droht beim kleinen Format nicht die Selbstverklärung oder das Pamphlet? Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, der gerne als Chef-Chronist der 68er-Bewegung bezeichnet wird, beginnt mit einem Prolog, der sich mit der Rolle des Autors befasst, also mit ihm.

Was narzisstisch anmuten könnte, ist dramaturgisch durchaus stimmig. 1968 erschien in Frankreich Der Tod des Autors von Roland Barthes, ein Jahr später fragte Michel Foucault: Was ist ein Autor? Im Zuge der antiautoritären Revolte wurde damit begonnen, das Spannungsverhältnis zwischen Autorschaft, Autorität und Authentizität zu thematisieren. Kraushaar spricht von seiner „Doppelrolle“ als Zeitzeuge und als Historiker. Man erfährt, dass er als Abiturient in der niederhessischen Provinz hockte, während Frankreichs Studenten und Studentinnen im Pariser Quartier Latin Barrikaden errichteten und die Universitätsstädte der Bundesrepublik vor Aktivität vibrierten. Das war der Moment, in dem Kraushaar beschloss, nicht mehr bloß medialer Zaungast sein zu wollen, noch im gleichen Jahr begann er in Frankfurt Philosophie zu studieren und saß im Seminar von Adorno.

Autobiografisches findet sich in diesem Band, der mit Kapiteln wie „Reformer und Revoluzzer“ mehr auf Programmatik als auf Chronologie setzt, ansonsten nur sporadisch. Was sicher auch der Tatsache geschuldet ist, dass das „Feindbild 68“ im derzeitigen politischen Diskurs allgegenwärtig ist. Der Autor bezeichnet die sechziger Jahre als Irritationserfahrung. Weder zuvor noch danach seien gesellschaftliche Normen wie Ordnung, Gehorsam, Leistung und Pflicht und moralische und ethische Werte so dermaßen auf den Prüfstand gestellt worden. Die Chiffre „68“ hat sich durchgesetzt, obwohl in den USA der Widerstand gegen den Vietnam-Krieg früher begann, für Deutschland gilt 1967 mit dem Tod von Benno Ohnesorg als Schlüsseljahr. Kraushaar spricht im Hinblick auf sein Buch von einer Reise, dazu passt dessen Gestaltung, mit einer Weltkarte, die die globale Dimension der Protestbewegung illustriert – von Paris bis Tokio. Im Buch dominiert die New Left, die sich in Abgrenzung zur Sozialdemokratie und zum Kommunismus entwickelte und den Marsch durch die Institutionen antrat. Rudi Dutschkes Diktum war nicht karrieristisch gemeint, aber Karriere machten trotzdem viele. Und das wird derzeit beim Kulturkampf gegen liberale Freiheitsrechte instrumentalisiert.

Wo 1968 stattfand lässt sich leichter beantworten als die Frage danach, wer die 68er waren. Kraushaar beschreibt ihre Wortführer als Außenseiter. In Berlin Rudi Dutschke, der DDR-Flüchtling, in Berkeley Mario Savio, der Sohn sizilianischer Einwanderer und in London Tariq Ali, ein Pakistani mit Oxford-Stipendium. Dem Klischee der Bürgerkinder, die gegen die Bürgerlichkeit rebellieren, entsprechen sie nicht. Damals wie heute zeigt sich das linke Spektrum vielschichtig: Marxisten, Leninisten, Trotzkisten, Maoisten, Anarchisten und undogmatische Linke. Widerspruchsfrei ging es auch bei der letztgenannten nicht zu. Hans-Jürgen Krahl, der Cheftheoretiker des SDS, wählte aus der Jukebox in der Frankfurter Kneipe stets den Nummer-1-Hit des Jahres 1968: Mama von Heintje. Als es zur „Revolte in der Revolte“ kam, weil die Herren auf dem Podium der SDS-Konferenz nicht über die Frauenfrage debattieren wollten, war es Krahl, an dessen Kopf die Tomaten landeten, die Sigrid Rüger abfeuerte. Inspiriert von Uwe Timms Roman Rot lässt Kraushaar sein Buch auf dem Friedhof enden, an den Gräbern von Protagonisten der Bewegung. Viele 68er beanspruchen bis heute, dass sie selbst die Deutungshoheit über das Jahr 1968 behalten, nach der Devise: Nur wer dabei war, kann darüber sprechen. Angesichts des Trends zur Regression, braucht es wohl eher eine neue antiautoritäre Revolte.

Info

1968. 100 Seiten Wolfgang Kraushhaar Reclam 2018, 100 Seiten, 10 €

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