In den Städten hängen nur wenige Plakate, der Wahl-O-Mat geht erst im August an den Start, aber der Bundestagswahlkampf scheint trotzdem in der heißen Phase zu sein. Wenn auch nicht für alle. Seit Wochen dominieren die Grünen die Schlagzeilen, im Zentrum: Annalena Baerbock. Läuft bei den Grünen, lautete meist die Losung dieser Legislaturperiode. Läuft gerade aus dem Ruder, muss man nun nicht ernüchtert, sondern nüchtern konstatieren.
Und das liegt auch an Baerbock. Erst meldete sie verspätet Sondereinnahmen nach, dann wurden in ihrem Lebenslauf Aufhübschungen entdeckt und zuletzt Plagiatsverdächtiges in ihrem gerade erschienen Buch gesichtet. „Rufmord“ war die Reaktion der Grünen. Peer Steinbrück, dessen Stinkefinger-Foto sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, könnte ein Lied singen über schrille Töne des medialen Begleitorchesters in Wahlkampfzeiten.
Der Rufmord-Vorwurf ist aber eine Nummer zu hoch gegriffen, denn Baerbock hat nicht nichts getan. Klar, sie bewirbt sich auf keine Uni-Professur, aber sie will Kanzlerin werden, dass sie da besonders ins Visier genommen wird, dürfte für die Grünen kaum überraschend sein.
Von einer Kampagne der konservativen Kräfte, die sich gezielt gegen die Person Annalena Baerbock richtet, muss man dennoch sprechen, wenn jede noch so kleine Verfehlung Baerbocks zum Skandal hochgejazzt wird. Im Vergleich zu den Maskenaffären, Maut- oder Wirecard-Skandalen oder einem Versammlungsgesetz, mit dem NRW unter der Ägide des CDU-Kandidaten Armin Laschet Klima- und Gewerkschaftsprotesten das Leben schwer machen will, hat Baerbock sich Kleinigkeiten geleistet. Das ist keine Verharmlosung, sondern schlicht eine politische Gewichtung. Wegen der Delle im Image der Grünen-Kandidatin werden nun die Rufe nach einem Kandidatentausch mit Robert Habeck immer lauter.
Knapp 80 Tage vor der Wahl? Keine gute Idee. Und davon abgesehen: Der „Heilsbringer“, als der Robert Habeck in diesem Fall wirken würde, dürfte genauso in die Wahlkampf-Mangel genommen werden wie Baerbock. Profitieren würden vor allem Union und FDP. Es ist fast ein Treppenwitz, dass jene, die den Grünen stets den Moral-Apostel-Vorwurf machen, in den Umfragen für ihr kleinkrämerisches Moralisieren über „Schummel-Baerbock“ belohnt werden.
Das ist erstaunlich, denn eigentlich kann die Wählerschaft ganz gut zwischen Moral und Doppelmoral unterscheiden. Die Wählerwanderung zu den Grünen ist ja nicht nur dem Klimawandel geschuldet, sondern sie erfolgte auch, weil die Partei in Zeiten von AfD-Erfolgen beim Thema Asyl nicht sämtliche humanistische Standards fallen ließen.
Aber ein Wahlkampfgetöse, das sich nicht um Inhalte, sondern um Personen dreht, trübt den Blick. Angesichts eines Wahlprogramms, das nicht dazu taugt, den Klimawandel einzudämmen, und das die Schere zwischen Arm und Reich weiter befördert, dürfte die Union alles daran setzen, im Wahlkampf bloß nicht über Inhalte sprechen zu müssen.
Das ist nicht nur eine schlechte Nachricht für die Grünen, sondern für alle Mitte-Links-Parteien. Denn traditionell wird der Slogan „Nicht die Person zählt, sondern der Inhalt“ bei ihnen wörtlicher genommen als bei der Union, bei der eine zukunftsweisende Programmatik noch nie eine Königsdisziplin war. Aber dafür muss man sich erst mal Gehör verschaffen.
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