Der ältere rotwangige Mann im dunkelgrünen Lodenmantel steuert zielstrebig auf die Gruppe von Polizisten am Ausgang des U-Bahnhofs im Regierungsviertel zu. „Sie wollen zur AfD-Demonstration?“ Der Polizist erntet auf diese Frage einen empörten Blick. „Da haben Sie was nicht verstanden, das ist eine Mahnwache“, sagt der Mann und eilt die Treppe hoch, die direkt zur Veranstaltung führt. Noch nicht einmal 48 Stunden sind nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz vergangen, vor dem Bundeskanzleramt versammelt sich die Neue Rechte, nur ein paar Kilometer entfernt marschiert die NPD unter dem Motto „Grenzen dicht machen“. Im abgesperrten Bereich verteilt eine Frau Handzettel mit dem Slogan „Merkel muss weg“.
Vor dem Kanzleramt
Die Teilnehmerzahl ist überschaubar, Deutschlandfahnen und die bei Pegida beliebte Wirmer-Flagge wehen im eisigen Abendwind vor dem Kanzleramt. Transparente auf denen „Merkel wählen, heißt Krieg wählen“ oder „Remigration jetzt“ zu lesen ist, werden in die Höhe gehalten. Ein Reporter rennt in Richtung Scheinwerferlicht. Dort posieren AfD-Vize Alexander Gauland und AfD-Sprecher Björn Höcke. Hinter der Absperrung formiert sich der Gegenprotest. „Terrorunterstützer“ skandieren die AfD-Anhänger, einer schreit in Richtung der Gegendemonstranten: „Ihr werdet die ersten sein, die gehängt werden.“ Eigentlich waren Redebeiträge von Höcke und Gauland angekündigt worden, sie beschränken sich auf Statements, die sie eifrig in die Mikrophone sprechen. Der Kurs mit dem die AfD auf den Anschlag reagiert, stand früh fest. Kurz nachdem der LKW am Montagabend in den Weihnachtsmarkt gerast war, twitterte der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Marcus Pretzell „Es sind Merkels Tote! #Nizza #Berlin“.
Seehofer und die Fakten
Am Dienstagmorgen legte Horst Seehofer nach. „Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren“, sagte der CSU-Chef. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht einmal die Hälfte der zwölf Todesopfer des Anschlags identifiziert. Der Geflüchtete aus Pakistan, der eine Stunde nach der Tat festgenommen wurde, kam abends aus dem Polizeigewahrsam, weil er als Tatverdächtiger ausschied. Kurz darauf postete der „Islamische Staat“ ein Bekennerschreiben, bis dahin war noch von einem mutmaßlichen Anschlag die Rede. Erst am Mittwoch wurde bekannt, dass die Sicherheitsbehörden nach einem Tunesier fahnden, der in Deutschland einen Asylantrag gestellt hatte und zwischenzeitlich als „Gefährder“ unter Beobachtung stand. Die Faktenlage abwarten wollte Seehofer nicht. Seit Wochen bemerke er in der Bevölkerung beim Thema Sicherheit eine „spürbare Emotionalisierung“, teilt der CSU-Vorsitzende mit. In Berlin kann man solche Gefühle in den ersten Tagen nach dem Anschlag nicht wahrnehmen. Es ist stiller als sonst, am Breitscheidplatz hinterlegen Passanten Blumen und Kerzen, in den U-Bahnhöfen schauen viele mit ernsten Gesichtern auf das Video-Banner, mit dem die Verkehrsbetriebe der Opfer gedenken. Emotionen zum Thema Sicherheit zeigen stattdessen vor allem Unionspolitiker.
Die innere Sicherheit
Saarlands Innenmininister Klaus Bouillon, der zurzeit den Vorsitz der Innenministerkonferenz hat, nahm zwar seine Äußerung, Deutschland befinde sich im „Kriegszustand“ zurück, wartet dafür aber täglich mit Plänen für neue sicherheitspolitische Maßnahmen auf. Seine Forderungen reichen von Inlandseinsätzen der Bundeswehr bis zur Überwachung von Messengerdiensten wie Whats-App. Beim Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten sieht er Änderungsbedarf, bei der Asylpolitik ebenfalls. Im Januar werde er konkrete Vorschläge machen, kündigte er im Interview mit der Rheinischen Post an. Armin Schuster, Obmann der Union im Innenausschuss, sieht das ähnlich. Vorschläge für Gesetzesverschärfungen lägen übrigens seit Monaten vor, sagte Schuster tagesschau.de, sie seien nur bisher an der Blockadehaltung der SPD und der Grünen im Bundesrat gescheitert. „Eine Kurskorrektur der Union ist deshalb gar nicht das Thema. Was wir brauchen, ist eine Kursverschärfung gegenüber SPD und Grünen." So kann man den Anschlag von Berlin natürlich auch für den Bundestagswahlkampf instrumentalisieren. Von der Schwesterpartei würde man sich bei CDU allerdings durchaus eine Kurskorrektur wünschen. Nach Armin Laschet kritisiert nun auch die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer Seehofers Vorstoß, den Terroranschlag in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Merkels Flüchtlingspolitik zu stellen. Seehofer bleibt indes stur. „Ob die CSU Merkel im Wahlkampf unterstützen wird, ist völlig offen", zitiert Spiegel Online ein namentlich nicht genanntes Mitglied der CSU-Spitze. In Bayern möchte man anscheinend lieber bei der Klientel der AfD auf Stimmenfang gehen. Vor dem Kanzleramt in Berlin verzichten Gauland und Höcke am Mittwochabend auf die angekündigten Redebeiträge. Worte könnten den Schmerz nicht nehmen, heißt es zur Begründung.
Inszenierung und Instrumentalisierung
Stattdessen bittet der neurechte Verleger Götz Kubitschek, der mit der Initiative „Ein Prozent“ die „Mahnwache“ mit Musik von Bach und Haydn inszeniert, einen Mann im schwarzen Talar, der als Priester vorgestellt wird, ans Mikrophon. Es handelt sich um den ehemaligen evangelischen Pfarrer Thomas Wawerka, dem die sächsische Landeskirche wegen seiner politischen Nähe zur Neuen Rechten im Sommer das Pfarramt entzogen hat. Er spricht kurz über „Besonnenheit“ als angemessene Reaktion auf den Anschlag, um sich dann auf den Theologen Dietrich Bonhoeffer zu berufen. Wawerka zitiert dessen Satz, man müsse „dem Rad in die Speichen fallen“. Ein Passant, der die Veranstaltung vom Straßenrand beobachtet, ruft „Heuchler“. Eine junge Reporterin vom französischen Fernsehen fragt die umstehenden Pressevertreter, wer Bonhoeffer ist. „Ein Theologe, der im Widerstand gegen den Nationalsozialismus war“, antwortet jemand. „Er wurde von den Nazis ermordet“, ergänzt ein anderer. Die Reporterin und ihr Kameramann schauen verwirrt. „Gab es solche Veranstaltungen wie diese ‚Mahnwache‘ auch nach den Anschlägen in Paris?“ Beide schütteln den Kopf und beginnen ihr Equipment einzupacken. Sie haben genug gesehen.
Kommentare 4
Hilfloser, nutzloser CSU-Sprech zur Stimmungsmache.
Fordern um des Forderns Willen, Aktionen um der Aktionen Willen! Ohne Sinn und Verstand! Ist das weiterhin die CSU-Marschrichtung in der Flüchtlingspolitik?
Wann kommt Seehofer zusammen mit seinen Kombattanten auf die Idee, das "Übel" an der Wurzel, d.h. im Herkunftsland zu packen? Bereits dort potentielle Terroristen zu eliminieren, ggf. auch per Abtreibung? Ach, das "C" im Parteinamen würde dem entgegenstehen? Keine Sorge, das ist doch längst zu "charakterlos" verkommen.
Kein Wunder, dass sich in dieser Partei ein Mann mit Hang zu Schmutzeleien, wie vom amtierenden Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden quasi "notariell" bestätigt, zum Ministerpräsidenten und Vorsitzenden küren lassen will.
Aber wer hört schon noch auf Seehofer und seine Kombattanten? Die Kanzlerin jedenfalls nicht!
Stattdessen rudert das politische Weichei schon wieder zurück!
"Wenn erklingt: wer betrügt, der fliegt,
tipp ich resigniert: Populismus siegt."
http://youtu.be/sBom50KrkBk
Viel Spaß beim Anhören!
Es wäre für alle beteiligten Kommentatoren der Berliner Ereignisse besser gewesen, sie hätten sich an gesicherte Fakten gehalten und nicht mit Vermutungen Politik gemacht.
Dennoch muß festgehalten werden, daß das europäische Modell der offenen Grenzen bei der unkontrollierten Masseneinwanderung 2015 eben auch Tür und Tor für IS-nahe Unterstützer und Terroristen geöffnet hat. 2016 haben die deutschen Staatsorgane einiges korrigiert, Überwachung der Grenzen etwa.
Warum wird aber die Diskussion um die vertretbare Anzahl der aufzunehmenden Flüchtlinge nicht nach Abschätzung der verfügbaren Ressourcen bestimmt (Wohnraum, Arbeitsplätze) ?
Was ist daran falsch ?
PS: eine Demokratie lebt von der Auseinandersetzung um die wichtigen Fragen. Da kann man nicht ständig das "alternativlos"-Mantra wiederholen.
@ Meteor Das Asylrecht in der BRD ist ein Individualrecht.An dem Punkte hat Frau Merkel sogar recht.Ein Individualrecht kann nicht ohne Gesetzesänderung eingeschränkt werden.Die BRD geht daher den Weg immer mehr Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Ein Weg in die Sackgasse da die Definition von "sicher" immer zynischer wird.
Die historische Chance eine Verfassung gemeinsam mit den DDR Bürgern zu entwickeln( beim Anschluss), wurde vertan. Die DDR hatte ein Asylrecht als Staatsrecht-wie übrigens auch andere europäische Länder. Damit konnte sie den Zufluss von Asylanten
regulieren.
Bleibt uns nur der Versuch mit Millionen "Facharbeitern" die unter prekären Arbeitsbedingungen demnächst in den Arbeitsprozess eingefädelt werden unsere Modernisierungsverlierer vor sich her zu treiben.
Marktkonforme Demokratie -wie Merkel sie versteht.
begrenzen und steuern.
Die letzte Zeile -begrenzen und steuern- sollte eigentlich gelöscht sein.