Ali aus Aleppo

Syrien Wir betrachten die Konflikte so distanziert. Können die Brutalität nicht fassen. Nur wenn es einen Freund trifft, spüren wir den Wahnsinn.

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Gestern starb Ali. Er wurde 29 Jahre alt. Ich lernte ihn vor drei Jahren in einem Ramschladen nahe der Zitadelle von Aleppo kennen. Dort, wo Studiosus-Reisende überteuerte Intarsienkopien erstehen, wo die jungen Aleppiner mit scheuen Blicken flirten.

Er war klug, großsprecherisch und hinter jeder Frau her. Ein junger Mann aus Aleppo. Er führte das Geschäft seiner Eltern. Und das gut. Verkaufen konnte er. Geld sei sein Hobby, lachte er. Und strich über seine ölig nach hinten gegelten Haare. Einer seiner Mitarbeiter war schwul. Er hatte im Souk gearbeitet. Junge Islamschüler aus einer benachbarten Medresse hatten den Jungen vor Jahren zusammengeschlagen. Ali nahm ihn auf. Schützte ihn. Seine Familie gehörte zu den reichen sunnitischen Familien der Stadt. Er kannte Düsseldorf, lächelte schmierig, wenn er von den Clubs auf der Kö erzählte. Ein „Strizzi“ würde man hier sagen. Wir spielten Backgammon. Es ärgerte ihn, dass ein „Kreuzfahrer“, ein Mehlgesicht, das Spiel beherrschte. Politik war weit weg. Er wollte einfach nur Spaß haben. Am nächsten Tag fuhren wir nach Hama, einer Stadt südlich von Aleppo. Wir genossen einen Tag am Fluss Orontes, sahen den Kindern zu, die von den riesigen Wasserrädern in den Fluss sprangen. Wir aßen Oliven, Käse, unfassbar scharfes Lammfleisch. Tranken Arak, den harten, öligen Schnaps. Ali rauchte übles Kraut. Ich fuhr ihn still zurück nach Aleppo. Die Nacht verbrachte ich auf dem Dach seines Hauses in der Altstadt, schlief auf einem alten, muffigen Sofa mit zu viel Arak im Kopf ein. Am nächsten Morgen stand Ali schon im Geschäft, während ich mit viel Mokka den Suff vertreiben wollte. Sein jüngerer Bruder Hamid fuhr mich zum Busbahnhof. Ich schüttelte ihm die Hand, fuhr nach Palmyra, der Wüstenstadt.

Die beiden Brüder habe ich nicht mehr gesehen. Aber mit Ali hatte ich immer wieder Kontakt. Auch während der Unruhen. Vor zwei Wochen schrieb Ali, dass er jetzt kämpfen müsste. Die Armee hätte sein Geschäft an der Zitadelle geplündert. Sie seien eben Sunniten. Was sollte ich ihm raten? Ich, der in Frieden aufwuchs und lebt. Der nie für seine Freiheit und Perspektiven kämpfen musste. Glück wünschte ich ihm. Und das Allah ihn schützen möge. Kitschig? Vielleicht.

Heute morgen schrieb mir Hamid. Eine Armeepatrouille habe Ali erwischt und sofort erschossen. Ein Jeep habe ihn danach mehrfach überfahren. Sein geschundener Leib habe am Morgen auf der Straße gelegen. Ali sei als „Märtyrer“ gefallen, schrieb Hamid. Ali, der Geschäftsmann, der Strizzi, der Bagalut, der Levantiner, Aleppiner, ein Mann – aber niemals ein Märtyrer. Wo immer er ist, möge er dort alle Spiele gewinnen. Âlf shukr, Ali, und Salaam aleikum.

Wir betrachten die Konflikte so distanziert. Können die Brutalität nicht fassen. So weit weg. Nur wenn es vor unseren Augen passiert, wenn es einen Freund, ein Familienmitglied trifft, spüren wir den Wahnsinn, verstummen kurz. Aber dann hört es auch bald wieder auf. Ich habe Syrien friedlich erlebt. Konnte das Land erreisen. Von Norden bis Süden. Ich spürte den schwelenden Konflikt, sah die Slums um Damaskus herum, hörte vom Zorn in den Flüchtlingslagern der sunnitischen Palästinenser, hörte auch die abschätzigen Bemerkungen der Alawiten über die Sunniten. Die Wut war greifbar bei den Armen, denen ohne Perspektive. Und dennoch erfreute ich mich an dem Zusammenleben so vieler Ethnien und Religionen wie in Aleppo. Kirchen hier, Moscheen da. Naiv wie ich war, inspirierte mich das zum „Lilith Code“. Aber aus dem Reformer Baschar al Assad ist ein Schlächter geworden. Das Land, das ich so sehr geliebt habe, geht den Weg in die Hölle. Der einzige Trost: Aleppo existiert seit 5000 Jahren. Dutzendfach wurde es erobert, geschleift und erstand immer wieder auf.

http://www.youtube.com/watch?v=fi-S9lrnLZ8&feature=related

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Geschrieben von

Martin Calsow

Schriftsteller ("Quercher und die Thomasnacht", "Quercher und der Volkszorn", "Quercher und der Totwald") und Journalist, lebt am Tegernsee.

Martin Calsow

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