Der Bastard bekommt einen Preis

Friedensnobelpreis Die EU bekommt den Friedensnobelpreis. Wieder beginnt das allgemeine Kopfschütteln. Dabei hat uns die EU die längste Friedensperiode in der Geschichte Europas beschert.

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Die Europäische Union bekommt den Friedensnobelpreis. Und wieder beginnt das allgemeine Kopfschütteln. Ausgerechnet dieser Moloch, der Bastard. Dieses Bürokratiemonster, das den Schlendrian der Südländer nicht nur übersehen, sondern vielmehr auch befördert hat. Keiner mag es. Wer das nicht glaubt, muss nur einmal mit einem Engländer über die Union sprechen.

Und auch die ersten Kommentare in den Foren lassen nur einen Schluss zu: Die Skandinavier haben wieder einmal die Welt nicht verstanden. Es ist das Jammern, das Zetern einer fetten, geschichtsvergessenen Europa-Generation. In nicht einmal zwei Jahren jährt sich der Beginn des ersten Weltkriegs, entzündet von einer erhitzten, hysterischen und kriegsbegeisterten Adelselite. Bezahlt mit Millionen von Leben. Und der Grundstock für einen weiteren Weltkrieg. Wir glauben in unserer saturierten, selbstgefälligen Art, dass Gipfel, Kongresse und andere Politikertreffen ja nur eine Farce seien, vergessen darüber, dass diese Form der Kommunikation uns vor katastrophalen Abstürzen in nationale Alleingänge bewahrt.

Es gibt viel an der Bürokratie dieser Union auszusetzen. Aber unbestritten bleibt, dass sie uns allen seit Ende des letzten Kriegs die längste Friedensperiode in der Geschichte Europas beschert hat. Einem Europa, wo einst eine Depesche, ein Attentat, ein Zaudern zu Kriegen und Genoziden führte. Wo immer in den Ländern des neuen Europas antidemokratische Tendenzen auftauchen wie jetzt in Ungarn, schauen die Partnerländer sehr genau hin, können sanktionieren, Einfluss nehmen, ohne mit Waffen zu drohen. Dieses Europa hat gelernt. Es redet statt einzumarschieren. Es hilft sich gegenseitig, mit Murren und Meckern zwar, aber es hilft. Es ist ein Fortschritt, dass nach Monaten des Jammerns über die faulen Griechen die Deutschen in Umfragen erstmalig einem Beibehalt der Griechen in der EU mehrheitlich zustimmen. Wie es auch anders geht, sieht man am Beispiel der Türkei. Da sind Grenzverletzungen sehr schnell in der nationalistisch überschäumenden Politikelite ein Kriegsgrund. Da wird aufmarschiert, gedroht, zurückgeschossen. Es ist nicht alles gut im heutigen Europa, aber es ist deutlich friedfertiger, moderner und vielleicht auch weiser als das alte Europa.

Wir sollten stärker darauf achten, wer dieses Gebilde kritisiert und warum er es tut. Die Angriffe gegen die EU aus den USA (siehe Herrn Geitner) sind von dem Wunsch genährt, von der eigenen Krise abzulenken. Die Chinesen haben längst begriffen, dass in dem vielleicht von einer Krise betroffenen, aber dennoch potenten Partner Europa mehr Perspektive steckt als in den abgewirtschafteten USA. Und das ist lediglich die wirtschaftliche Betrachtung dieses Gebildes. Viel relevanter ist der kulturell-gesellschaftliche Weg, den Europa gemeinsam gegangen ist: Ganze Generationen sprechen heute mindestens eine europäische Fremdsprache. Ressentiments gegenüber Nachbarländern verschwimmen. Wer von den Nachgeborenen kennt noch Begriffe wie Erbfeind oder das „perfide Albion“? Mein Urgroßvater kämpfte 1870 bei Sedan für ein mecklenburgisches Regiment. Mein Großvater geriet 1916 an der Somme in Gefangenschaft, und mein Vater wütete mit der Wehrmacht im Osten. Ich aber musste und werde nie eine Waffe gegen einen Nachbarstaat mehr ergreifen. Pathetisch? Zweifellos. Aber wem das zu naiv ist, dem sei eine Reise auf die Schlachtfelder von Verdun, der Somme, den Seelower Höhen oder der Normandie empfohlen. Und das gilt ebenso für die Konzentrationslager in ganz Europa.

Heute erscheinen uns die Gräber weit weg und fremd. Wer will denn in diesen Zeiten noch an solche Hysterie glauben? Eingerichtet hatten wir uns – über Jahrzehnte. Und dann, 2001, der erste Schock. Und der Terror kommt auch nach Europa. Die erste Bewährungsprobe. Klammheimlich schaffen wir hart erkämpfte Bürgerrechte ab. Vergessen wieder einmal, wie essentiell sie sind. Es ist die erste Delle in der Karosserie. Aber anders als in Amerika können wir den Diskurs über den Islam, den Islamismus und den Fundamentalismus ein wenig versachlichen. Diese Idee, das Dahinterschauen, das Zögern, das Verneinen einer Nibelungentreue, wem auch immer gegenüber, nervt die Amerikaner. Man spricht vom „alten Europa“, meint aber ein neues, ein skeptisch friedvolles. 2008 kommt die nächste Krise. Und da tauchen sie wieder auf: die alten Ressentiments. Ein dumpfer Bayer schwadroniert über Exempel, die zu statuieren seien, verzweifelt-dämliche Griechen halten Hitler-Karikaturen empor. Aber die meisten – bleiben cool. Vielleicht zerreden wir solche Diskurse, lassen sie unter den Teppich fallen. Vielleicht auch, weil eine gemeinsame europäische Erregungsgesellschaft noch nicht existiert. Das was uns Deutsche empört, lässt andere kalt – und umgekehrt. Ein Akzeptieren des Missklangs? Oder vielleicht doch ein Lernen aus der Vielfalt?

Am besten beleuchtet eine persönliche Geschichte mein Gefühl von Europa. Die Tante eines Freundes, Marlies, aus dem tiefsten Bayern stammend, lernt Anfang der 50er Jahre am Tegernsee den Franzosen Yves aus Paris kennen. Sie verlieben sich. Obwohl er jüdischer Herkunft ist und vermuten muss, dass noch viele Alt-Nazis um ihn herum an diesem See leben. Sie heiraten, gehen nach Frankreich. Obwohl viele Franzosen sie noch als Besatzerin und Boche bepöbeln. Die beiden eröffnen in einem alten Wehrmachtsbunker eine Bar. Die läuft sensationell. Wenig später eröffnet das Paar ein Hotel – in Compiegne. Dem Ort der deutschen und französischen Kapitulation. Reiner Zufall. Hat sich ergeben. Beide lieben Gerhard Polt, Marlies ärgert sich über Yves naives Deutschlandbild, er sich über ihre ständige Kritik an den Franzosen. Auf die Frage, was sie seien, Franzosen oder Deutsche, antworten sie beide gleich: Europäer.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Calsow

Schriftsteller ("Quercher und die Thomasnacht", "Quercher und der Volkszorn", "Quercher und der Totwald") und Journalist, lebt am Tegernsee.

Martin Calsow

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