Die andere Realität

Solidarität Nicht Vorsprung durch Technik, sondern Sicherheit durch Rechtstaatlichkeit und Rechtssicherheit sollten deutsche Exportschlager sein. Warum vergessen wir das?

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Bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts lebten Omanis in der Wüste. Auf kargem Boden ließen sie Ziegen nach wenigem Grün suchen. Dann kam das Öl. Die Menschen im Oman verließen ihre Dörfer, verdienten ihr Geld dank eines geologischen Glücksfalls. Wer aber passte auf ihre Hütten, ihre Ziegen auf? Sie kauften Pakistani. Und so sitzen heute Männer aus Belutschistan, aus Karatschi und Khyber 340 Tage im Jahr irgendwo ohne Strom in den Bergen und bewachen die Hütten der einst armen Omanis. Die kommen in den Wintermonaten mit weiteren Pakistani, um die Hütten auszubauen. 50 Kilo wiegt ein Zementsack. Mit Flipflops an den Füßen schleppen die Männer die Säcke auf einem Ziegenpfad den Berg hinauf in das Dorf, das 700 Meter höher liegt. Drei Euro bekommt ein Mann dafür pro Tag. Einem Tag, an dem er eine halbe Tonne auf den Berg geschleppt hat. Rutscht und fällt er, wird er aufstehen und den Schmerz ignorieren müssen. Ein Arzt ist zu teuer, ein Krankenhaus einen halben Tag entfernt. Stirbt er, wird er dort begraben. Niemand würde ihn zurück in seine Heimat bringen können. Am nächsten Tag wäre ein anderer aus Pakistan da.

Eine Stunde entfernt liegt ein Luxusresort am Meer. Die Übernachtung kostet pro Nacht 1.000 Euro. Ein 25-Jähriger aus Peschawar müsste 30 Jahre jeden Tag zehn Stunden Zementsäcke schleppen, ehe er dort mit 55 Jahren einen zehntägigen Urlaub machen könnte. Das Resort bietet im Übrigen einen Drill-Cours an. Die Gäste können unter Anleitung eines Trainers einen Sportparcours absolvieren, über Bretterwände klettern, an Eisenstangen entlang hangeln. Sie tun das, um ein paar Kilos zu verlieren.

Wann immer wir Europa mit all seinen Problemen und auch seinem Gefälle zwischen Nord und Süd verlassen, können wir, wenn wir es denn sehen wollen, eine andere Realität erfahren. Eine, die so viel härter, grausamer und existenziell bedrohlicher ist als das meiste, was in unserem Land passiert. Je länger man sich in diesen Gesellschaften aufhält, desto mehr versteht man die Wut und den Hass derer, die den Westen in seiner fetten Bräsigkeit erleben. Die schiere Not dieser Menschen verschlägt einem die Stimme.

2050 werden auf diesem Planeten mehr als neun Milliarden Menschen essen trinken wollen. Während wir im Westen den Diskurs-Dreck aus unserem Bauchnabel kratzen und in Flatulenz-Foren über Befindlichkeiten von Gruppen schnattern, drängen sich mehr und mehr Menschen an unserer Tür. Wir wissen, dass sie da draußen sind. Aber wir reden lieber über uns. Über Burnout, Tierschutz und Megaprojekte. Und über unser Gefühl. Über das, was so spannend ist im Leben. Die andere Welt sehen wir – wenn überhaupt – nur als Bedrohung. Ob Islamisten in Mali oder gefährliche Chinesen, die uns überrennen wollen. Wir nennen sie generös „Schwellenländer“ und betrachten sie mit postimperialem Habitus, als seien sie irgendwie begabte, aber ungezogene Kinder. Nur manchmal fällt uns das überhebliche Lächeln wie Schorf aus dem Gesicht, und wir empören uns wortgewaltig über Vergewaltigungen in Indien. Gleichzeitig denken wir aber lieber nicht darüber nach, dass auch hierzulande über 90 Prozent aller Straftaten von Männern begangen werden. Und die Worte zerbröseln uns erst recht im Mund, wenn wir mit Herrschern anderer Länder Geschäfte machen können. Dann ist die Erinnerung daran, dass einst Firmen, die mit dem Iran handelten oder Saudi Arabien Waffen lieferten, moralisch sanktioniert wurden, nur noch milchig. Lieber engagieren wir uns für den Artenschutz von Haien und Käfern.

Je globaler die Welt der Wirtschaft, Finanzen und Politik agiert, Macht eingesetzt und missbraucht wird, desto mehr schrumpft die Welt des Einzelnen auf das Sparbuch und die eigene Befindlichkeit. Der Merkelsche Biedermeier-Pragmatismus hat sich in unser aller Köpfe festgesetzt. Wir betrachten die Welt da draußen wie die Ostdeutsche. Irgendwie fremd wirkt das alles. Aber mit etwas Sachlichkeit ist sicherlich auch das zu bewältigen. Keine Vision, keine Spur von Solidarität, von einer Vorstellung, was die wirklichen Zukunftsfragen sind. Vielleicht fürchten wir auch, dass keine westliche Demokratie nur einen Monat die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Herausforderungen der Länder im Nahen oder fernen Osten bewältigen könnte. Also verteidigen wir lieber die eigene Scholle. Und wenn es eng wird, schicken wir ein paar Bundeswehrtruppen oder schauen von außen zu.

Unser Land ist mehr als reich und stabil. Und deshalb könnten wir in dieser Welt mehr bewirken. Das Wort Hegemonialmacht ruft einen solchen Widerwillen in uns hervor, weil wir an Wilhelminismus und Faschismus als deutsche Exportschlager denken. Dann lieber nur ein bisschen hinter den Kulissen mitmischen. Nur ist dieses außenpolitische Wasch-mir-den-Pelz-aber-mach-mich-nicht-nass-Gehabe nicht mehr möglich. Viele Länder in der Welt erwarten geradezu von uns eine Haltung, eine Idee von einem Zusammenleben. Viele Migranten, die hier in unserer Gesellschaft aufwuchsen, transportieren diese Idee in ihre Länder. Wer es nicht glaubt, dem sei ein Besuch in anatolischen Dörfern empfohlen, wo die sogenannten „Deutschländer“ mit Vehemenz die in Deutschland erfahrene Rechtsstaatlichkeit einfordern – zum Missfallen dortiger Behörden allerdings. Statt Krieg könnte von diesem Land eine Gesellschaftsidee in die Welt hinausgehen. Es würde nicht darum gehen, das Bild des Klassenbesten abzugeben, sondern um Wissens- und Bildungstransfer. Unsere Exportgüter wären nicht nur Vorsprung durch Technik, sondern Sicherheit durch Rechtstaatlichkeit und Rechtssicherheit. Jeder gesellschaftliche Erfolg baut darauf auf. Warum vergessen wir das?

Ein Blick in die Internet-Foren gibt die mögliche Antwort. Zynisch, oft auch nur dämlich, wird dort unser Gesellschaftssystem in Frage gestellt, verhöhnt oder, noch mehr, nur als Marionettenspielerei bezeichnet. Scheinbar geistig gesunde Menschen (meist Männer übrigens) gefallen sich in düsteren Untergangs- und Verschwörungsszenarien. Nur wenige Irre? Bei Weitem nicht. Mehr als ein Drittel, bei manchen Wahlen bis zu 50 Prozent, der Wähler sind zu faul, ihr demokratisches Recht in Anspruch zu nehmen. Ist ja so was von egal. Wir schwatzen über die angeblich versagenden Politiker, gießen Häme über gefallene Würdenträger aus und wissen doch heimlich und still, dass die meisten von uns diesen Aufgaben nicht einmal für eine Woche physisch wie intellektuell gewachsen wären. Wir jammern auf hohem Niveau und halten es für selbstverständlich, dass hierzulande Polizisten, Gerichte und Behörden nicht oder nur sehr selten bestechlich sind und sogar mitunter seltsam anmutende Diskurse über Unisex-Toiletten in Kreuzberg, fehlende Sitzplätze in Gerichtssälen oder gefälschte Doktorarbeiten mit großer Ernsthaftigkeit geführt werden. Ob Linke oder Konservative – das halbgare Geschwurbel über das kaputte System ist immer dabei. Wir verhalten uns wie in einer langen, unglücklichen Ehe: Anstatt in der ersten Phase der Liebe einen Vorrat an schönen Erinnerungen anzulegen, der helfen würde, auch die schwierigen Jahre zu überstehen, brüten wir dumpf vor uns hin und freuen uns gar klammheimlich, wenn es anderen noch viel schlechter geht.

Politisch zu denken und zu handeln, bedeutet nicht nur, schlichte Kritik zu äußern, sich in verrenkten Injurien zu ergehen und wie eine rostige Trompete zu husten. Es bedeutet auch, sich seiner eigenen Lebenssituation bewusst zu werden, das Kleingedruckte der Wahrheit zu lesen und die positiven Aspekte zu würdigen und zu pflegen. Das erfordert eine beträchtliche Exegese und ist mitunter unbequemer als mit plumpen Sprüchen zu fraternisieren. Aber nur dann werden wir unsere Verpflichtung erkennen, über die eigene Lebenswelt hinauszublicken und auch die Situation anderer Menschen zu verbessern. Nicht weil wir es besser wissen. Sondern weil wir uns dessen bewusst sind, dass wir etwas zu teilen haben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Calsow

Schriftsteller ("Quercher und die Thomasnacht", "Quercher und der Volkszorn", "Quercher und der Totwald") und Journalist, lebt am Tegernsee.

Martin Calsow

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