Die Rakete nach Jerusalem

Israel/Palästina Wer sich bei diesem Konflikt auf eine Seite stellt, muss wissen, dass er ein Werkzeug mindestens einer Gruppierung ist.

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„War noch nie in Israel“, postet eine Kollegin, und weiter: „Stehe aber fest an Israels Seite.“ Die Kollegin ist klug, weiß Bescheid. Aber bei dem Wort Israel setzt bei vielen die Emotion ein und der Verstand aus. Derzeit fliegen wieder die Raketen. Krieg heißt hier: ein Dutzend Tote auf israelischer Seite und Hunderte, wenn nicht bald Tausende tote Zivilisten auf palästinensischer Seite. Es geht nicht ums Gegenrechnen. In dieser Region geht es nicht um Schuld. Es geht um Interessen. Keiner, der noch nicht in dieser Region länger als für einen Urlaub war, kann das Geflecht der Gruppen und ihrer Unterstützern verstehen. Umso erstaunter ist man, wenn man sich wie die Kollegin „fest an eine Seite stellt“. Welche Seite sollte das denn sein?

Einige Dutzend Male war ich in der Region. Lernte sie kennen. Noch immer schlägt mein Herz für die Angeber in Beirut, die gerissenen Händler in Damaskus, die extrem klugen und sehr streitlustigen Juden in Safed. Aber nie fand ich in den Ländern eine Gruppe, eine Seite, die mich für das Land generell einnahm. Welche Seite sollte das in Israel auch sein? Natürlich gibt es in Israel eine Friedensbewegung. Sie ist in den letzten Jahren aber immer kleiner und unbedeutender geworden. Und es gibt jene Israelis, die längst mit Unbehagen den Weg des einstigen demokratischen Vorzeigestaates im Nahen Osten begleiten. Sie sind klug und aufgeklärt, aber gefangen in einer stummen Minderheit. Es gibt aber auch die radikalen Siedler mit ihrem unerträglichen Kolonialherren-Gebaren. Die Orthodoxen, die jenseits jeder Logik und historischer Wahrheit argumentieren und hetzen. Die Militärs, die aus Israel längst ein waffenstarrendes Sparta gemacht haben. Und jene jüdischen Einwohner, für die Palästinenser Untermenschen sind, die man an jedem Grenzposten schikanieren, sie wie in Hebron mit Abfall bewerfen, ihre Häuser niederreißen, ihre Bäume fällen und ihre Felder zerstören darf. Israels regierende Politikkaste jedenfalls zieht den Krieg nicht nur in ihr Kalkül. Sie will den Krieg als klärendes Mittel, um neue Verhandlungspositionen zu haben.

Und die Palästinenser? Es gibt jene, die wir mit ihren blutenden Kindern in den Armen in verdreckte Krankenhäuser laufen sehen. Jene, die aus den Trümmern von Wohnhäusern gezogen werden. Aber vor allem jene, die sich zur „Hamas“ bekennen. Sie war einst eine Gegenbewegung zur korrupten, aber säkularen „Fatah“, die heute zerstritten und abhängig von westlichen Ländern wie eine Marionette agiert. Jetzt ist die „Hamas“ eine abstoßende Terrorgruppe, ideologisch ein Mix aus sinnlosem Fanatismus und blutrünstigem Pragmatismus. Wer die „Hamas“ ernsthaft unterstützt, muss auch Ja sagen zu Al-Qaida und anderen fanatischen Islamisten. Ihre Führer traten und treten nach wie vor für einen Steinzeit-Staat ein, in dem Frauen und Andersgläubige wie -denkende keine Rechte haben. Sie kämpfen für einen Religionsstaat, nicht für ein demokratisches Palästina.

Jede Partei fügt sich dabei mit ihrer Rolle in ein großes und grausames Spiel ein. In der Psychotherapie nennt man es Familienaufstellung. Es gibt das ewige Opfer, den Täter, den Vermittler und die Eltern, die das steuern, die aber auch gefangen sind in ihren Positionen. Wir werden – wieder einmal – lernen müssen, dass dieser Krieg niemals zu Ende gehen wird. Selbst nach einem Waffenstillstand, einem Einmarsch oder einem kurzfristigen Frieden werden alle Beteiligten weitermachen wie bisher. Gaza und die Westbank werden nie zu einem Staat Palästina zusammengeführt. Israel wird das nie zulassen. Und auch das gehört zu einer bitteren Wahrheit: Wer die palästinensischen soziopolitischen Strukturen kennt, weiß, dass ein rechtsstaatliches, ökonomisch funktionierendes System nur mit viel Optimismus zu erwarten ist. Tribalistische Formen, das alleinige Verlassen auf familiäre Bindungen zementieren korrupte Strukturen. Wer das arrogant findet, weiß nichts von der Region. Romantik hilft nicht. Dieses Volk muss die ewige Opferrolle abstreifen. Sonst wird es immer nur von anderen Ländern und Gruppierungen benutzt und vor sich her getrieben. Eine Zwei-Staaten-Lösung wäre für die Mehrheit der Palästinenser ein Weg in das Verderben. Der Staat wäre nach wenigen Jahren schlicht bankrott und zerstritten. Dazu bedarf es wenig Prophetie. Es gibt keine Hoffnung für Palästina. Selbst wenn mit internationaler Hilfe kluge Strukturen aufgebaut werden würden, existieren zwei überwindbare Hürden: die Frage des Zugangs und der Verteilung des knappen Guts Wasser und die Frage der Sicherheit Israels.

Es gibt nur dann eine Spur der Hoffnung, wenn Israelis und Palästinenser begreifen, dass sie in einem neuen Staatengebilde nur gemeinsam, gleichsam kooperativ existieren können. Aber wer würde je die Toten auf beiden Seiten vergessen können? In einer Region, die biblischen Hass über Jahrhunderte zur Doktrin erhoben hat.

Wer sich auf eine Seite stellt, muss wissen, dass er ein Werkzeug mindestens einer Gruppierung ist. Ob das Guido Westerwelle ist, der mit seiner Forderung nach einem sofortigen Stopp der Raketen auf Israel dumm und einseitig daher schwätzt. Oder all jene, die die bedingungslose Verteidigung Israels als deutsche Staatsräson oder gar als ihr ureigenes Prinzip sehen. Sie rechtfertigen damit den Tod von Zivilisten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Calsow

Schriftsteller ("Quercher und die Thomasnacht", "Quercher und der Volkszorn", "Quercher und der Totwald") und Journalist, lebt am Tegernsee.

Martin Calsow

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