Die Würde des Griechen ist unantastbar

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Der Mann massiert mich. Er ist in München geboren, lebt dort und redet, als sei er einer Kir-Royal-Folge entstiegen. Sein Makel: Er hat einen griechischen Pass und einen griechischen Namen. Das fordert seit Monaten viele seiner Patienten heraus, ihre mindere Meinung unter seinen Händen kundzutun, Witze zu machen und ihre generelle Sicht auf Griechenland herauszustöhnen. Noch nie hat dieser Mann seine Position ausgenutzt und einen Muskel der penetranten Patienten zu stark geknetet. Ich hätte es getan - spätestens beim schalen Witz, ob denn wenigstens er Steuern zahle.

Ein Schwall durchschnittlicher deutscher Bürger-Ängste wabert seit Monaten durch deutsche Presseerzeugnisse und TV-Beiträge. Und auch im Privaten endet dieser Erguss nicht. Wie Pfeffer und Salz gehört das Griechen-Bashen zu einem guten Abend unter deutschen Eigenheim-Dächern – ertragreich und tiefgehend wie die Frage, ob Schalke jemals Meister wird. Noch nicht einmal kreativ in der Findung verrenkter Injurien. Vielmehr mittelmäßig und kleingeistig. Wenn nichts geht, Griechenland geht immer. Jeder kennt eine Geschichte des Skandals, des Irrsinns. Schnell wird man sich einig. Kaputtgehen lassen. Sollen die doch bleiben, wo ... Es geht um unser Geld.

Wer da widerspricht, erlebt einen Shit-Storm – nur nicht virtuell. Es ist blanker Hass, der einem entgegenschlägt. Die Inseln könnten die Griechen ja verkaufen. Deutsche Finanzbeamte – ja, das täte denen mal gut. Es wird geredet wie über ein unartiges, auffälliges Kind. Als ob jeder Grieche, wirklich jeder der elf Millionen, faul und korrupt sei. Miese, kleine Sanguiniker, denen man jetzt die Leviten lesen müsse. Man berauscht sich an dem Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, im richtigen Land. Woher nehmen wir diese Denkweise? Dieses von Oben herab, das schnelle Richten, den eitlen Weltekel? Historisch gesehen sind wir auf Morgenthau statt auf Marshall – zuweilen sind wir auf Klugscheißkoks. Weil wir das Geld haben? Weil wir als eine der wenigen scheinbar gut da stehen? Weil wir wirtschaften können? Weil die Griechen es verdient haben? Weil sie uns in den Abgrund ziehen?

Oder: Weil deutsche Panzer von Rheinmetall und Krauss Maffei auf griechischen Kasernenhöfen stehen? Weil deutsche U-Boote aus Kiel die Ägäis gegen imaginäre Feinde schützt? Weil Schweizer Banken munter 200 Milliarden Euro der griechischen Oberschicht bunkern? Weil niemand das Geld einfriert bis zur Klärung der Besteuerung? Weil eine Oligarchie aus Politikerdynastien, Verflechtungen von Wirtschaftsführern, Erben und Verwaltungschefs dieses System über Jahrzehnte unter den Augen der europäischen Politik und zum Nutze deutscher Unternehmen goutiert hat?

Die Sorgen unserer südeuropäischen Nachbarn sind vielfältig, die Gründe für ihre Krisen noch einmal mehr. Was aber kein Mensch, kein Einwohner, kein Bürger verdient, ist die herrenreiterartige Besserwisserei und Oberlehrer-Attitüde aus unserem Land. Es ist schäbig und abstoßend, wie deutsche Journalisten ihre menschenverachtende Polemik über diesen Menschen auskübeln. Journalisten aus einem Land, das im ersten Artikel der Verfassung die Würde des Menschen als unantastbar definiert. Politiker stellen sich mit dem Brustton der Überzeugung vor Kameras und reden von einer geregelten Staatsinsolvenz. Wissend, dass ein Bankrott mit Wochen des Chaos voller Blut und Schmerz bezahlt werden wird. Und je mehr wir Deutsche von oben herab über die Griechen richten, wehren sie sich, igeln sich ein und trinken das wirr machende Verschwörungstheoriegesöff der eigenen Politiker. Wann ist Frau Merkel, wann ist Herr Schäuble nach Athen gereist, hat sich im griechischen Fernsehen für die Hetze aus unserem Land entschuldigt, unsere langfristige Hilfe angeboten und systemische Änderungen als Basis gefordert? Ein deutsches Wort hat mehr Gewicht denn je. Man bittet um uns Führung. Aber wir nutzen das, um klugzuscheißen und uns in unserem Unmut einzudüstern. Den Griechen zu helfen, würde heißen, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie es erstens schaffen, wir zweitens an ihrer Seite stehen und es drittens nicht nur um Geld geht.

Es geht um die Idee Europas. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich eine falsche Selbstverständlichkeit in den Köpfen der Deutschen breit gemacht. Nie mehr Krieg. Nationalismus ist out, und Krisen bekommen wir in den Griff, wenn wir nur genug Geld zahlen oder uns brav in der UN enthalten. Doch das ist Unsinn. Ohne Europa wäre ein Land wie Deutschland in kürzester Zeit ein Spielball der neuen Kräfte wie China. Nicht nur im wirtschaftlichen Sinne. Unsere mühsam errungenen Standards in den Bereichen Menschenrechte und Verfassung haben nur Wirkung, wenn sie aus Europa heraus manifestiert werden. Jedes Land zählt. Sezession wäre ein fataler Rückschritt.

Gewohnheitsdenken ist der Wahrheit Tod. Wenn wir jetzt nicht aus der Geschichte lernen, wenn Parteipolitik, das Schielen auf Wählerstimmen und populistisches Getöse unser Handeln bestimmen, machen wir einen entscheidenden Fehler. Die Griechen litten und leiden unter einem korrupten System, das von einer kleinen Oberschicht am Leben erhalten wurde. Um abzukassieren, zu betrügen und zu schaden. Es geht nicht mehr um Links und Rechts. Es geht um Oben und Unten. Die Griechen hätten anders wählen sollen? Wen denn? Das korrupte System war parteiübergreifend. Wer den Griechen das Letzte nimmt, was sie noch haben, nämlich ihre Würde, wird bald wesentlich größere, existenzielle Fragen zu beantworten haben. In den Achtzigern wurde man als Deutscher im Ausland noch als Moffe, Bosche, Hunne oder schlicht Nazi beschimpft. Die Nachgeborenen empfanden das als ungerecht, widersprachen aber kaum. Zu groß war das, was Jahre zuvor vom eigenen Land angezettelt wurde. Vermutlich geht es den Griechen jetzt ebenso. Sie sind im Generalverdacht der Faulheit und Korruption. Es täte uns gut, sie von diesem Verdacht zu befreien. Griechenland gehört zu der Idee Europas. Und wer diese Idee aus unserer Geschichte heraus versteht, muss jetzt helfen – nicht belehren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Calsow

Schriftsteller ("Quercher und die Thomasnacht", "Quercher und der Volkszorn", "Quercher und der Totwald") und Journalist, lebt am Tegernsee.

Martin Calsow

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