Es ist nie genug

Neonazis Allmählich dringen immer mehr Nachrichten zur NSU und den Verbindungen zu Staat und Polizei in die Medien. Doch all das lässt uns seltsam kalt.

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Die Brüllerthemen der letzten Tage: ESM-Rettungsschirm zustimmen – ja oder nein? Deutsche Nationalelf = Weicheier – ja oder nein? Und: Vorhaut abschneiden – ja oder nein?

Dürftig? Sommerloch? Kaum, so ganz heimlich schleichen sich die Nachrichten über den NSU-Nazidreck und die Verbindungen zu Staat und Polizei in die Blätter. Aber: Es lässt uns kalt. Wie immer bei solchen Ereignissen prasseln die üblichen Versatzstücke über uns herein. „Lückenlose Aufklärung, Gedenkfeier, öffentliche Entschuldigung, Untersuchungsausschuss …“, und langsam läuft das Blut aus dem Themenkörper heraus. Übrig bleibt ein News-Kadaver, über den man kopfschüttelnd hinweggeht. Keine dauerhafte Debatte, ob die – vorsichtig ausgedrückt – Lethargie staatlicher Ermittler nicht systemisch und was dagegen zu tun sei. Nur ein kurzes Wegducken. Ein Kopfschütteln. Das waren halt ein paar Verstrahlte aus dem Osten. Nur von Ferne hören wir, dass sich europäische Nazi-Netzwerke gebildet haben, zusammenarbeiten, von Staaten zwar beobachtet, aber nicht ausgeschaltet werden.

Es war auch so einfach. Ein Dutzend Südeuropäer tot. Das kann nur etwas mit Schutzgeld zu tun haben. Schnell noch etwas Verachtendes wie „Dönermorde“ als Oberbegriff darauf getextet. Und schon verschwindet das Thema in der Schublade „Migranten und ihre letalen Eigenheiten“. Man muss gar nicht beckmesserisch auf die sogenannten „Pannen“ der Ermittler eingehen. Ein Verfassungsschützer ist eine Minute vor dem Tod eines Opfers am Tatort? Wer soll denn glauben, dass es purer Zufall war? Aber die Menge der „zufälligen Pannen“ verwirrt mehr, als dass sie den Verstand schärfen. Noch immer taugt der „öläugige Muselmann“ besser als Feindbild als der Bürgersohn mit Nazidreck im Kopf. Und nicht ganz unschuldig sind die linken Aufrechten selbst. Nazis wurden in Kampagnen dumm und hohl gezeichnet, Glatzen eben. Kriegen kaum den Baseballschläger hoch. Sehen aus wie etwas, das in einen schrecklichen Unfall verwickelt war. Und irgendwie schwang da auch mit, dass die RAF ja ein ganz anderes Kaliber gewesen sei. Ja, da hatte der Terrorismus noch Stil. Effizientes in den Hinterkopf schießen – das konnte nur die RAF bei Schleyer. Aber siehe da – auch der Nazi kann schießen.

Das eine wie das andere war und ist widerlich. Und auch wenn im Westen Deutschlands und hier speziell in Bayern eine Menge brauner Verbrecher herumpullern: Der Sumpf liegt im Osten. Dort ist die NPD stark, dominiert Kleinstädte, schafft sogenannte „national befreite Zonen“ unter den Augen der dortigen Politik. Dort marschieren sie öffentlich und selbstbewusst. Frivolerweise profitieren sie von genau dem Phänomen, unter dem Mitbürger mit Migrationshintergrund leiden müssen: Sie scheinen nicht zu „uns“, der Gesellschaft des friedlich vor sich schnarchenden, christlichen Abendbrotlandes, zu gehören. Und genau, wie nur wenige davon erschüttert waren, dass in diesem Land Menschen mit türkischen und griechischen Wurzeln ermordet werden, genauso wird eine Aktenvernichtung durch V-Leute in unnachahmlicher Beamtensprache zu einem „beispiellosen Vorgang“ klein geredet, werden Neonazi-Demonstrationen nonchalant als schiefgelaufene Event-Experimente seltsamer Homunkuli betrachtet.

Das Geschwerl verdient Aufmerksamkeit – dauerhaft und in allen Formen. Es gilt, wieder kreativ in unserem Zorn zu sein und die Grenzen unserer galvanisierten Aufmerksamkeit zu sprengen. Es gilt, die zu unterstützen, die in Untersuchungsausschüssen die Fragen stellen. Die Kampagnen gegen das Pack lostreten. Die, die Namen nennen, derer, die Hass säen. Sie an das Licht zerren. Immer und immer wieder. Klingt noch zu nebulös. Letztlich wirft es auf uns Schreibende ein schlechtes Licht. Warum in den Nahen Osten schweifen, das Übel liegt doch so nah? Warum, und hier gerät der Schreibende in arge Konflikte, schreiben wir Autorinnen und Autoren nicht dagegen an? Beim Urheberrecht können wir uns unfassbar erregen, aber wenn es um unsere Menschenechte geht, bleiben wir seltsam verhalten. Es sei doch alles gesagt, erklärt ein Kollege. Nie ist es genug. Wie sagte eine Witzemacherin kürzlich? Wir beobachten Euch, Aserbaidschan. Von jetzt an gilt: Wir beobachten Euch, rechtes Dreckspack.

Seit dem Jahr 2000 wurde statistisch alle acht Wochen ein Mensch in Deutschland von Nazis aus Deutschland getötet.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Calsow

Schriftsteller ("Quercher und die Thomasnacht", "Quercher und der Volkszorn", "Quercher und der Totwald") und Journalist, lebt am Tegernsee.

Martin Calsow

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