Niger statt Griechen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ein Bild aus meiner Kindheit: Mein Vater, Jahrgang 1921, steht vor dem Regal mit den schimmernden Rindfleisch-Konservendosen, schaufelt Dutzende von ihnen in den Wagen und stapelt sie danach in unserem Keller als eiserne Reserve. Es waren bei seinem Tod vor einigen Jahren so viele, dass meine Mutter die meisten wegwarf. Trotz der langen Haltbarkeit war diese abgelaufen. Niemals hatte jemand die Konservendosen angerührt. Mein Vater kaufte sie aus der Erinnerung an den Hunger. Etwas in ihm erinnerte ihn an die Hungerjahre. Es ließ ihn nie mehr los.

Heute sind wir fett und satt von zu viel Demokratie. Anders ist die Häme nicht erklären. Kaum kommt das Thema auf Griechenland, weiß jeder von „unglaublichen Geschichten“ zu erzählen. Macht sich lustig über die Faulheit, die Korruption dort. Echauffiert sich, wie frech die Griechen sind. Fordern Geld, statt zu sparen. Es ist wie in einer miesen Oper mit zu viel donnerndem Gesang und kreischenden Farben. Und wenn man fragt, wie es denn gehen soll, kommt schnell das Wort „Rauswurf“. So wie man einen säumigen Gast in die Wirtshausküche zum Spülen schicken möchte, so empfiehlt man den Südeuropäern den Ausstieg. Fernab all der vulgärökonomischen Ideen der letzten Zeit (und da darf dann wirklich jeder Mal etwas sagen, der einen Taschenrechner bedienen kann), macht sich in den Reden und den Beiträgen von Politikern wie auch Journalisten ein Ton der Häme, der Verachtung und der Demütigung breit. Es scheint, als wäre auch hier ein Haltbarkeitsdatum abgelaufen. Das der Anteilnahme. Und als müsste man nun den eigenen Unmut kompensieren, indem man andere desavouiert.

Zwei Beispiele: Frau Lagarde vom IWF (www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/griechische-sozialisten-werfen-lagarde-beleidigung-vor-a-835502.html) hat kein Verständnis für arbeitslose Jugendliche in Athen. Sie sondert ihr Mitleid nur über afrikanischen Kinder aus. Auch Jan Fleischauer, reaktionärer Hofnarr bei Spiegel Online, muss sein Seelengebräu in Form von wortgewordenen Macheten kundtun und feiert sein persönliches, selbstzufriedenes Ein-Mann-Bacchanal (www.spiegel.de/politik/deutschland/jan-fleischhauer-kolumne-unsere-griechen-a-833673.html).

Wer glaubt denn wirklich, dass sich Griechen und Einwohner anderer Krisenländer diesen Ton weiter anhören, brav sparen und die Auflagen, die immer mehr wie Reparationsforderungen formuliert werden, artig schlucken? Wer von uns würde das tun? Wer würde sich diesen demütigenden Ton gefallen lassen? Wenn das eigene Land von einer Clique korrupter Politiker und Wirtschaftslenker ausgebeutet und abgewirtschaftet wurde. Wenn man seinen Arbeitsplatz verloren hat oder das eigene kleine Geschäft nicht mehr floriert und man nicht weiß, wie man die nächste Miete bezahlen soll. Und was berechtigt uns Deutschen, über den Dingen zu levitieren und andere mit harschen Ratschlägen zu beflegeln? Wir, die qua Gnade geographischer Geburt in einem Land leben, welches gut durch die Krise zu kommen scheint und nicht allen, aber doch erstaunlich vielen einen epikureischen Lebensstil ermöglicht.

Wer keine Perspektive hat, wer in der Ecke steht und verzweifelt ist, beißt. Irrational? Nein, nachvollziehbar – und vor allem gefährlich. Wer sich heute über Griechen und Spanier, Portugiesen und Iren lustig macht, ihren Willen zur Veränderung in Zweifel zieht, wird sich morgen mit ganz anderen Problemen beschäftigen müssen. Sollten diese Länder kippen, drohen Verelendung und Aufstand. Diese Häme ist ein Brandbeschleuniger. Eine ganze Generation junger Menschen wird diese Katastrophe für Jahrzehnte in sich tragen. So wie mein Vater alles aus der Sicht eines ewig Hungrigen sah, werden diese Menschen diese Zeit des drohenden Abgrunds nicht vergessen. Meinem Vater aber gab man eine Perspektive. Eine Demokratie, ein Aufbauen, ein Vergeben der Schuld. Aus Deutschland wurde, trotz unfassbarer Verbrechen, keine gigantische Ackerfurche. Jedes Recht hätten die Länder um uns herum dazu gehabt. Man gab uns eine Chance und eine Zukunft. Man investierte. Hatte einen Plan. Eine Vision. Von einem Europa ohne Faschismus, ohne Krieg und Armut. Sie ließ Menschen die ersten Jahre die Angst und den Hunger vergessen.

Heute ist niemand da. Keiner will eine Idee Europas formulieren. Zu sehr ist diese Idee in den letzten Jahrzehnten von Technokraten und Politikdarstellern zerredet worden. Menschen, deren Verstand so beweglich ist wie ein Flugzeugträger. Wir haben Brüssel immer als Hindernis, als notwendiges Übel angesehen. Ausrangierte Politiker wie Oettinger und Stoiber wurden quasi in die Endlagerstätte Brüssel verklappt. Wir sprachen vom Wasserkopf. Betonten das Nettoeinzahlen. Und wenn hinter dem Reportergesicht im Fernsehen die Europaflagge wehte, schaltete man um.

Dabei ist die Idee Europa so viel mehr als nur eine Währungsunion. Es ist die Idee eines Gesamtstaates. Mit einer Rechtsstaatlichkeit, einem Sozialsystem, einem Wirtschaftsraum, einem Zusammenschluss der Banken, einer Armee und einer Verfassung. Es wird schwer. Es wird Krisen geben. Aber es ist ein Ziel, um das es sich lohnt zu kämpfen. Ein Europa ohne Gefälle, ohne reichen Norden und armen Süden. Ein Europa, das konsequent Korruption, organisierte Kriminalität und Verschwendung verfolgt und bestraft, effizient und ehrgeizig die Verfassungsrechte überall verteidigt. Ein Europa, das Wirtschaft als Instrument für Menschen begreift und nicht andersherum. Ein Europa, das Banken nicht als Feindbild sondern als nützliches Mittel begreift und sie auch so reguliert. Nie mehr wird in diesem Europa ein Vorstandchef sagen, wie die Politik auszusehen hat.

Fordern wir einen Pakt: In zehn Jahren werden wir die Vereinigten Staaten von Europa haben. Das sind die Zwischenziele, das sind die Investitionen, und das werden die Risiken sein. Aber sie werden von Athen bis Lissabon, von Skandinavien bis Sizilien gelten.

Das ist eine Politik, die mehr will, als nur managen. Als nur sachlich die Dinge von hinten zu denken. Das ist eine Politik mit hoher Fallhöhe. Wer sie aufsetzt, muss wissen, dass er bereits abgewählt sein wird, wenn das Ziel erreicht ist. Denn das ist keine Politik des Tages.

Zum Weiterlesen:

www.bildblog.de/18326/leitfaden-wie-hetze-ich-gegen-ein-land-auf/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Calsow

Schriftsteller ("Quercher und die Thomasnacht", "Quercher und der Volkszorn", "Quercher und der Totwald") und Journalist, lebt am Tegernsee.

Martin Calsow

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden