Pablo und Tom

USA Die Debatte darüber, wer in ein scheinbar sehr reiches Land kommen darf, erhält in den USA angesichts von Krise und Rezession neue Züge.

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Sie stehen am Bahnhof, wenn die meist weiße amerikanische Mittelschicht hinein nach New York mit dem Expresszug fährt. Zwanzig mögen es sein. Mexikaner, Peruaner und Ecuadorianer. Manchmal sind auch Männer aus Guatemala dabei. Sie treten von einem Fuß auf den anderen. Es ist unerträglich kalt. Eine Kaltfront ist von Kanada hinuntergezogen. Die Männer kennen Tropen und Wüsten. Pablo aus dem Südwesten Ecuadors lebte bis zu seinem 16. Lebensjahr am Rande eines Dschungels. Wie er nach East Hampton, in den Osten der USA, gekommen sei? „Walking and sometimes bus, but mostly walking“, ist seine lakonische Antwort.

Sie warten, dass jemand sie anspricht. Arbeiterstrich nennen wir das in Deutschland. Laub zusammenkehren, Schnee schippen. Keiner hat einen Pass, ein Auto – nur Freunde, bei denen sie wohnen. Sie alle werden von einem Mann angeführt. Der handelt die Stundenlöhne aus. Eine Mafia, sagen die einen. Schutz für die Untersten, damit die Stundenlöhne nicht zu niedrig ausfallen, sagen die anderen. 25 Dollar die Stunde – viel Geld für die USA. Unfassbar viel für Menschen, für die diese Summe in ihrer Heimat einen Wochenlohn darstellt.

Nicht viel los heute. Die Rezession. Zudem sind die Reichen, die südlich des Montauk-Highway wohnen, noch an wärmeren Plätzen. Ihre Häuser verwaist. Aber bald werden sie hier wiederkommen, und dann müssen die Anwesen top sein. Für die Partys, die Empfänge, für die Ehefrauen. Anwesen, die selten weniger als drei Millionen Dollar kosten. Nach oben keine Grenze. Und ganz unten ist Pablo, der hofft, das Laub in der Einfahrt zusammenzukehren und die Hecke zu schneiden, die das Anwesen umgibt und vor Hirschen und bösen Blicken schützt.

Ein grüner Ford 150, ein Pickup, fährt langsam an den „Hispanics“ vorbei. Der Wagen wird nicht weit entfernt geparkt. Der Mann in dem Anorak, den schweren Arbeitsschuhen und der Wollmütze heißt Tom Wedell. Er ist kräftig, breites Gesicht, viele braune Haare. Ein einfacher Arbeiter, Patriot, heißt es. Manche halten ihn auch für einen schlimmen Hetzer. Der Mann greift von seiner Ladefläche ein Plakat, das an einer zwei Meter großen Holzstange befestigt ist, und stellt sich auf die andere Seite der Straße. Man braucht nicht viel Englisch-Kenntnisse um zu verstehen, was da auf dem Plakat steht: „Deport Illegals. When they jumped the fence, they broke the law.“ Nur wenige Minuten dauert das. Dann verschwinden alle 20 Männer von gegenüber. Der Protest des Einzelnen hat sie vertrieben. Einheimische fahren hupend vorbei und zeigen Hände mit erhobenen Daumen. Befürworter. Aber Tom Wedell hat auch andere erlebt. Die ihm Kaffee ins Gesicht gossen, ihn einen Faschisten nannten. Allen sagt er das Gleiche: „Thank you for sharing your opinion.“ Mehr nicht. Danke, dass Sie Ihre Meinung mitgeteilt haben. Er hat es hier auf Long Island zu einer lokalen Berühmtheit gebracht. Spricht er doch ein brennendes, komplexes Thema auf sehr schlichte Weise an. Illegale Immigration.

Die Debatte darüber, wer in ein Land kommen darf, das scheinbar unermesslich reich ist, kennen wir auch in Deutschland. Aber wir sind wirklich reich. Die USA sind das eben nicht. Und sie haben noch viel länger als wir das Problem nicht sehen wollen. Zu sehr war es mit fürchterlichen Ressentiments verseucht, ein Minenfeld. Wenn wir von Flüchtlingen aus Lateinamerika reden, haben wir in Europa meist die Vorstellung von einer armen mexikanischen Familie, die nachts allein über die Grenze robbt, um dann in einem Truck illegal weiter in den Norden und Osten der USA zu reisen. Aber die Grenze zwischen Mexiko und den USA ist schon längst in der Hand der Drogenkartelle. Tausende von Dollars müssen von den Flüchtlingen gezahlt werden. Die Familien werden in Mexiko und Guatemala angerufen, Geld wird verlangt, sonst sterben die Angehörigen. Und wer dort am Bahnhof in East Hampton steht, wird die meisten Dollars an einem Drogenzuhälter zahlen müssen. Ein mieses, zynisches und grausames Geschäft.

Aber dafür sind sie im Land. Ein Land, das sie nicht sofort ausweist. Zu sehr ist es mit Krieg und Rezession beschäftigt. Und dann arbeiten sie bei den Ultrareichen in den Hamptons. Für die ist das billiger, als einen lokalen Handwerker, der Sozialabgaben, Steuern und Versicherungen zahlen muss, zu engagieren. Fände Pablo eine Frau, würde er heiraten. Weniger aus Liebe, wie viele unter der Hand gestehen. Denn Heirat und Kinder bedeuten Absicherung. Jedes Kind, das hier geboren wird, bekommt den ersehnten US-Pass in die Wiege gelegt und kann nicht mehr abgeschoben werden. Und die Eltern werden aus humanitären Gründen dann eben auch nicht so schnell mehr zurückgeschickt.

Die Folge der illegalen, nicht gesteuerten Immigration: Mit jedem jungen Mann aus Latein und Südamerika verlieren die Länder, bluten aus. Brain drain wird gern verneint, aber er ist in Mexiko, in Ecuador und Nicaragua mit den Händen zu greifen. Die kräftigen und jungen Menschen gehen. Zurück bleibt der nichtmobile, meist schwache Rest. Die einen flüchten, die anderen verschwinden in der Armada der Kartelle. Für Frauen in Lateinamerika bedeutet dieses System der Flucht einen gewaltigen emanzipatorischen Rückschritt. Sie sind nicht mehr als Heirats- und Gebärmaterial. Kommen sie in die USA, müssen sie, um schwerer abgeschoben zu werden, schneller heiraten und Kinder zeugen. Diese Frauen werden natürlich nicht mobil sein, bleiben zu Hause, kommen in keine Sprachkurse. Sie bleiben isoliert, schauen Telenovelas und gehen bestenfalls illegal putzen.

So lange genug Arbeit für alle da war, fiel es keinem auf, es war es okay. Arme Teufel, dachten viele. Aber jetzt, wo das Land leidet, die Krise, meist mitverursacht von jenen, die in ihren Villen südlich des Highways leben, noch schwelt, ist der Kampf härter geworden. Jetzt stören sich die Menschen daran, dass Hispanics ohne Versicherungen Unfälle verursachen und die Geschädigten mit den Kosten allein lassen könnten. An Schulen, die Spanisch als Hauptfach anbieten. An den mehrsprachigen Schildern beim Recyclinghof. „Diese Menschen brechen das Gesetz. Wir zahlen dafür.“ Das sagt ein Handwerker. Gleichwohl macht er das Spiel auch mit. Ein Handwerker mit mehreren Angestellten wird ebenso Illegale beschäftigen. Sonst ist er mit seinen Preisen auf dem Markt nicht konkurrenzfähig. Auf zwei Legale kommen drei Illegale. Man sägt auf dem Ast, auf dem man sitzt.

Es trifft nicht die unterste Schicht. Ihr ist es egal. Vom Staat abgeschrieben, von reichen Privatleuten (euphemistisch hier als „philantropist“ bezeichnet) mittels Spenden stillgestellt. Diese Gruppe bezieht ihre Sozialleistungen und wird in einem reichen County wie Suffolk abgefangen. Die ganz Reichen sind ebenso unberührt. Da fühlt sich scheinbare Humanität ganz gut an und man engagiert sich gern als liberaler Demokrat. Es trifft die untere Mittelschicht und arbeitende Unterschicht, blue collar. Die, die nach oben wollen. Und unter den Steuerbelastungen, dem Schulgeld für die Kinder, den Kreditzinsen leiden. Für sie ist Tom Wedell ein Held. Einer, der etwas macht. Einer der letzten weißen Kämpfer. Denn das weiß jeder: Dank der Demographie wird in der nächsten Dekade die Präsidentschaft von Hispanics entschieden werden. Schon der amtierende Präsident hat mit enormen Zusagen für die hispanischen Zuwanderer genau dort die entscheidenden Punkte gemacht. Schlecht für Tom Wedell.

Der wird am nächsten Tag nicht wiederkommen. Schwerer Schneefall ist angesagt. Er bleibt daheim. Nur Pablo und die anderen werden wieder da sei. Sicher werden die langen Einfahrten freigeschaufelt werden müssen. Den ganzen Morgen berichten auf den lokalen Sendern schicke Reporter vom schlimmen Schneesturm. Keiner der Reporter wird den Weg zum Bahnhof von East Hampton finden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Calsow

Schriftsteller ("Quercher und die Thomasnacht", "Quercher und der Volkszorn", "Quercher und der Totwald") und Journalist, lebt am Tegernsee.

Martin Calsow

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