Pars pro toto: das neue Meldegesetz

Meldegesetz Ein Häufchen Abgeordneter verabschiedet ein Gesetz, das das Verhältnis zwischen Staat und Bürger nachhaltig erschüttert

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Wenn der gemeine Bundesbürger seinen neuen Wohnort nach einem Umzug nicht binnen sieben Tagen bei der zuständigen Gemeinde meldet, liegt ein Verstoß gegen das Meldegesetz vor. Bisher wurde dieser je nach Bundesland mit einer unterschiedlich hohen Geldstrafe geahndet. Dass muss niemandem schmecken – wohl aber kann man sich kaum der Logik verschließen, dass Staat wie auch Bürger ein berechtigtes Interesse daran haben zu wissen oder zu melden, wo wer wohnt. Und das gilt nicht nur für die Statistiker im Staatsdienst. Der Bürger zieht daraus zum Beispiel den nicht zu unterschätzenden Nutzen, pünktlich zu jeder Landtags-, Bundes- oder Europawahl mit den entsprechenden Wahlunterlagen beglückt zu werden und somit die politischen Geschicke dieses Landes beeinflussen zu können. Der Staat möchte unter anderem Steuerbescheide zustellen können oder aber wissen, an wen und wohin er Transferleistungen zahlt. Staat und Bürger befinden sich also in einem mehr oder weniger knebelnden Abhängigkeitsverhältnis. Oder neudeutsch: Sie haben einen Deal, der beiden Seiten zu Gute kommt. Dachte man bisher.

Jetzt stellt sich heraus, dass dem Staat die Profitinteressen einer Klientelgruppe wichtiger ist als der Datenschutz. Dass mit dem neuen Meldegesetz personenbezogene Daten an Adresshändler weitergegeben werden dürfen und der Widerspruch des Bürgers zwecklos ist, wenn die anfragende Firma bereits vorhandene Daten im Auge hat und diese korrigieren will. Es wird offenbar, dass ein kleines Häufchen Abgeordneter während eines lauen Juni-Abends, an dem der große Rest der Republik und eben auch eine eindruckvolle Zahl absenter Parlamentskollegen mit einem EM-Halbfinalspiel im fernen Polen beschäftigt ist, ein Gesetz verabschieden kann, das dazu angetan ist, das Verhältnis zwischen Staat und Bürger nachhaltig zu erschüttern. Weil es dem besagten Deal eine Klausel beimischt, die die Bürgerrechte verschlingt wie eine Python ein Ferkel. Und man sieht mit zunehmender Erschütterung, dass die politische und mediale Öffentlichkeit in diesem Land geschlagene zehn Tage benötigt, um diesen Verfall der politischen Sitten zu bemerken.

Die gute Nachricht ist die, dass das neue Gesetz aller Voraussicht nach nicht den Bundesrat passieren wird. Denn nun ist die Aufregung groß und keine Partei hat es versäumt, ihren Unmut in wohlfeile Worte zu kleiden und sich dem Deus ex Machina gleich als Retter des entmündigten Bürgers zu gerieren: Nach der – wenngleich spät einsetzenden – Empörung der Oppositionsparteien hat nun Horst Seehofer erneut in Drachenblut gebadet und will nach Herrn Röttgen auch dem neuen Meldegesetz an den Kragen. Und Verbraucherministerin Aigner folgt abermals der schönen Tradition, den Themen stets eine erkleckliche Anzahl von Tagen hinterher zu hinken, bevor sie diese als ihre begreift, und hat ebenfalls Bedenken angemeldet. Allein die Kanzlerin lässt über den alerten Regierungssprecher ausrichten, mit dem Meldegesetz nichts zu tun zu haben.

Und so beginnt man (wieder einmal), sich seine Gedanken zu machen. Darüber, was wohl noch so alles in späten Parlamentsstunden beschlossen und durchgewunken wird. Inwieweit wohl auch anderweitig die Interessen des Bürgers hinter den Interessen der Wirtschaft zurückstehen müssen. Und ob es wirklich nur der Kniefall gegenüber dem Kapital war, der die Volksvertreter dazu animierte, diesem Gesetz zuzustimmen. Der Verdacht liegt nahe, dass es auch Desinteresse war. Desinteresse gegenüber den Rechten derjenigen, die die Parlamentarier eigentlich vertreten. Desinteresse gegenüber der eigenen Funktion, das nicht hat erkennen lassen, dass man mit diesem Gesetz die Solidarität zwischen Staat und Bürger aufkündigt. Desinteresse, das ein Maß an Stupor und geistiger Entsagung offenbart, dass selbst dem heiligen Antonius Bewunderung abgerungen hätte.

„Die da oben machen doch sowieso nur, was sie wollen“, hüstelt es gerne aus Richtung der Stammtische. Vielleicht ist die Lage viel dramatischer. Vielleicht wissen „die“ gar nicht, was sie wollen. Und das mag auch ein Ergebnis schlichter Überforderung sein. Die Euro-Krise – und das ist gar nicht zynisch zu verstehen – raubt schlicht Kapazitäten. Selbst wenn die Kanzlerin das Parlament nicht zu diversen Rettungsschirmen befragt, so muss jeder der über 300 Abgeordneten sich Tag für Tag mit dieser Materie auseinandersetzen. Denn draußen im Foyer warten Journalisten. Bereit, Fragen zu stellen, die vor wenigen Jahren kaum ein Doktor der Wirtschaftswissenschaft beantworten konnte. So ungern man es hört: Diese Krise führt eben auch dazu, dass im deutschen Parlament nun noch stärker als bisher die Stunde der Lobbyisten, der Einflüsterer und Strippenzieher geschlagen hat. Sie wissen um die Erschöpfung der Beteiligten. Und so huschelt der Vorschlag durch ein fast leeres Parlament.

Dieser unappetitliche Vorstoß der Datenhökerei sollte uns wachsam sein lassen. Demokratie ist kein Selbstläufer – eine Binse. Aber statt über „über die da oben“ zu wettern, sich allfälligen Verschwörungstheorien zu widmen, müssen wir schneller und aktiver reagieren. Und so ganz nebenbei sollten wir auch bei denen bedanken, die das öffentlich machen: Den Freiwilligen von Campact zum Beispiel. Und ja, auch den Old-School-Kollegen der Tageszeitungen, die das Thema auf die erste Seite gesetzt haben. So aufgeregt und hysterisch die Berliner Republik zuweilen wirkt – jetzt hat sie einmal zu recht gekreischt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Calsow

Schriftsteller ("Quercher und die Thomasnacht", "Quercher und der Volkszorn", "Quercher und der Totwald") und Journalist, lebt am Tegernsee.

Martin Calsow

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