Was von der Hysterie übrig bleibt

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So eine Diskussion um ein Gedicht hat zuweilen etwas Amüsantes. Ein Journalist stellt in einem Kommentar die Frage, ob es sich bei dem Gedicht überhaupt um ein solches handele. Schließlich würden Reime und richtige Verse fehlen. Niemand in der Redaktion stoppt diese Zeilen. Keiner redet leise auf den Redakteur ein, erzählt ihm von moderner Lyrik und davon, dass neben Wilhelm Busch noch anderes existiert.

Auch der immerwährende Hinweis auf die Winzigkeit des Staates Israel, der ja quasi das weiße, schutzlose Kaninchen umgeben von Wölfen sei, wurde wieder hervorgeholt. Verschweigend, dass es sich bei Israel um die weltweit viertgrößte Militärmacht handelt. Und das Land befindet in den Top Ten der größten Waffenexporteure – wie Deutschland auch.

Das sind nur zwei Beispiele für geistige Querschläger in der jüngsten Diskussion. Die Art und Weise der Diskussion hat etwas Hysterisches, etwas von den Strebern in der Schule. Jene, die immer alles (besser) wussten, sich überboten mit Details und von der Lehrerin ein Fleißkärtchen erhielten, sehen gerade ihre Stunde gekommen. Nur ein Beispiel aus der Riege der berufsmäßig Empörten: Henryk M. Broder. Er hat mit dem Grass-Oeuvre einen neuen Knochen zum Nagen bekommen. Beleidigend, ehrabschneidend und verletzend äußert er sich über Günter Grass, sobald das Rotlicht einer Kamera aufleuchtet.

Nun kann man rheinisch-gelassen glauben, dass hier der Mops die Sonne anbelle. Aber die Massierung der Unsachlichkeit, der wirren Vorwürfe hat Methode. Früher war das Wort dafür „Hetze“, heute ist es, vom richtigen Menschen kommend, „Polemik“. Und genau das ist es. Kritik wird nicht mehr inhaltlich argumentiert. Sie wird in unserer medial erhitzten Welt immer und ausschließlich von der Person her beurteilt. Und Kritik an der Kritik ist demzufolge ebenfalls nur und ausschließlich persönlich. Und an dieser Stelle verlässt das Lächerliche die Bühne. Denn das Hysterische, das Verunglimpfende, das Unsachliche der Diskussion um das Gedicht wie um Israel soll wegführen. Weg von einer Auseinandersetzung mit neuen Fragen.

Gibt es mittlerweile einen tiefen Graben zwischen dem, was von Politik, TV und Print veröffentlicht wird, und was mehrheitlich in diesem Land zumindest gedacht wird? Schrecken wir davor zurück, genauer hinzuhören? Anderes Beispiel: Sarrazin. Ich hielt und halte ihn für einen Spalter, einen Polemiker. Einen, der ganzen Volksgruppen qua Genetik Intelligenz und Willen zur Bildung absprach. Aber hat er nicht trotzdem auf einige Probleme hingewiesen, die existieren? War die Reaktion auf sein Buch nicht ähnlich sachfremd und emotional übersteuert wie jetzt bei Grass? Und wäre es nicht klüger gewesen, die von Sarrazin aufgeführten Argumente Punkt für Punkt einem kritischen Abgleich mit der Realität zu unterziehen – gerade um das verzerrte und verkürzte Denken des Autors zu offenbaren?

Sind unsere Diskurse über die großen Linien der gesellschaftlichen Entwicklungen nicht zusehends von einer erschreckenden Sachfremdheit, falschen Verkürzung und vor allem einer kreischenden Beleidigungskultur und Respektlosigkeit geprägt? Fängt das bei Vuvuzelas beim Abschied des Bundespräsidenten an und hört beim Aufruf zum Lynchmord in Emden auf? Warum fällt uns eine öffentliche Diskussion so schwer? Fehlen uns die intellektuellen Schichten, die Fragen der Moral, der Ethik, der Gesellschaft in sachlicher Form einordnen? Warum müssen wir auf eitle Schwätzer wie Arnulf Baring, Richard David Precht und andere zurückgreifen, wenn wir zu unseren Grundfesten vorstoßen wollen? Wird das Pöbeln permanent? Und was hat das zur Folge?

Diese Fragen müssen wir beantworten. Sie werden unsere Gesellschaft prägen. Wollen wir die hysterische Aufregung als dauerhaftes Element in diesen Fragen weiter zulassen? Im privaten Kreis wird Hysterie meist gebremst. „Bleib bitte sachlich“, sagt man und meist beruhigt sich der Aufgeregte. Anders im öffentlichen Raum. Hier wird verkürzt und aus dem Zusammenhang gerissen. Es gab eine Zeit, da hielten Journalisten es für richtig, Standards einzuhalten. Das hat sich geändert. Verlage wie Sender haben eine Konkurrenz, die sie lähmt. Seitdem das Internet jedem Bürger die Möglichkeit gab, sich öffentlich und dazu auch noch anonym zu äußern. Wer den kreischenden Furor in Foren lesen muss, weiß, wohin die Reise geht. Journalismus und veröffentlichte Meinung im Internet bedingen sich derzeit wie kommunizierende Röhren. Unterbieten in Talkshows Diskutanten jedwedes Niveau, findet sich der Ton in den Blogs und Foren wieder. Eine Hassseite wie „Political Incorrect“ schürt den Geist des Spaltens und spiegelt sich wider in fragwürdigen Print-Titelthemen gegen den Islam. Dumpfe Untergangsangst, schrille Hysterie und billige Beleidigungen bestimmen den Ton in der Öffentlichkeit. Es ist zu befürchten, dass wir nicht mehr den Weg zurückfinden.

Man sucht lange in den Kommentaren zu Grass nach dieser ruhigen Sachlichkeit. Ob ein Gedicht gut oder schlecht ist, hängt vom persönlichen Geschmack ab. Kunst in den Kategorien „gut“ oder „schlecht“ zu ordnen, ist töricht, schlimmstenfalls faschistisch (was vor gerade einmal zwei Monaten sehr eindrucksvoll durch die mindestens kunst-, mitunter aber sogar demokratiefeindlichen Kritik an Christian Krachts „Imperium“ vorgeführt wurde – obgleich man dem Autor ja eigentlich des totalitären Denkens überführen wollte).

Der Titel des Grass-Gedichts erinnert mich tatsächlich an den dumpfen Ton des Stammtischs. Aber daraus mag ich nichts konstruieren. Und: Auch andere sprachliche Verfehlungen – seien es Guido Westerwelles „Anstrengungsloser Wohlstand“ und „Spätrömische Dekadenz“ oder jüngst Röslers „Anschlussverwendung“ für Schlecker-Mitarbeiterinnen – entbinden uns nicht von der Pflicht, uns inhaltlich mit dem Gesagten auseinanderzusetzen. Auch und gerade wenn das besonders schwer fällt, weil der Urheber nicht der eigenen politischen Couleur zuzurechnen ist.

Grass stellt nicht den Iran auf eine Stufe mit Israel. Er beschreibt seine Sorge, dass israelische Politiker aus Sorge präventiv ein anderes Land angreifen. Das ist legitim. Und würde der deutschen Öffentlichkeit an einer sachlichen und vor allem weiterführenden Diskussion gelegen sein, würden wir uns jetzt mit viel interessanteren Fragen beschäftigen: Ist Israel ein normales Land? Ist es zu behandeln und zu sehen, wie jedes andere Land auf dieser Erde? Und darf jeder es so sehen? Staatsräson sei, so die Kanzlerin, dass Deutschland immer an Israel Seite stehe und die Sicherheit garantiere. Aber wer bestimmt, was Staatsräson ist? Und wer trägt die Konsequenzen, wenn es eskaliert, wenn es zu einem nicht eindämmbaren Konflikt in der Region kommt?

Grass hätte darauf hinweisen müssen, dass die iranischen Machthaber seit Jahren Israel angreifen – direkt verbal und indirekt militärisch über die Unterstützung der Hisbollah und der Hamas. Und dabei spielt es keine Rolle, dass der iranische Präsident nie direkt von einem Auslöschen des Staates gesprochen hat. Wer sich in das Chaos der nahöstlichen Beziehungen stürzt, sollte wissen, dass dieses Geflecht aus gegenseitiger Aggression schwer zu beschreiben ist. Wer sich hier nur auf eine Partei konzentriert, lässt unweigerlich den Vorwurf zu, entweder naiv zu sein oder eine versteckte Agenda zu haben. Im Nahen Osten gilt: „Einerseits und andererseits“, nie: „So ist es richtig.“ Das hat Günther Grass missachtet – aus Naivität oder Kalkül.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Calsow

Schriftsteller ("Quercher und die Thomasnacht", "Quercher und der Volkszorn", "Quercher und der Totwald") und Journalist, lebt am Tegernsee.

Martin Calsow

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