Wieso ein Geisterfahrer? Tausende!

Europa Die Idee eines vereinten Europas mit gleichen Startchancen für die Menschen stirbt im Politikerdelirium. Die Zukunft des Kontinents könnte in der Regionalisierung liegen.

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Seborga liegt im äußersten Nordwesten Italiens. Und Seborga soll unabhängig werden. Genauer gesagt: Seborga ist bereits unabhängig. Das glauben zumindest die Einwohner des Dorfes. Alte Verträge aus den Tiefen des Mittelalters sollen das bezeugen. Die Einwohner Seborgas – 400 sollen es sein – nehmen diese Idee sehr ernst. Das Land drum herum, Italien, tut dies eher nicht. Keine Frage, in Rom hat man andere, weitaus größere Aufgaben zu lösen. Fragt man die Einwohner Seborgas nach ihren Beweggründen, kommt sofort ein Wort: „Provokation“. Ihnen ist der Euro-Einheitsbrei ein Gräuel. Eigene Münzen werden schon in dem Städtchen geprägt. Man mag den Kopf schütteln und dies für eine weinselige Unsinnslaune halten. Aber die Krise Europas fordert geradezu neue Ideen und Denkansätze heraus.

Denn die einstige Idee eines vereinten Europas mit gleichen Startchancen für die Menschen eines ganzen Kontinents, einem kulturellen und gesellschaftlichen Austausch, einer Vision von dauerhaftem Frieden und Zusammenleben stirbt im Politikerdelirium. In die komplexen Diskussionen über die Zukunft unseres Kontinents mischt sich immer wieder unmanierliches bis gefährliches Phrasengerümpel. Meist ausgespien von Provinzkaspern wie dem bayerischen Finanzminister, der an Griechenland „ein Exempel statuieren will“. Er sagt es, um vor der Landtagswahl euroängstliche Wähler auf seine Seit zu holen. Ganz fränkischer Kleingeist beseppelt der Wandercharismatiker die Menschen mit CSU-Ideologie und nimmt das Kopfschütteln und Entsetzen der europäischen Nachbarn in Kauf.

Jetzt zeigt sich, wer Politik als Haltung verstanden hat. Und siehe da: Die meisten stehen ohne Kleider da. Europa ist auf die schnöde Vorstellung einer Wirtschaftsunion zusammengeschrumpft und wieder dort angekommen, wo es einst begonnen hat: geboren und genährt aus der Angst vor Krieg, Krise und anderen Wirtschaftsmächten. Merkel folgt – einer kleinen Investorette gleich – ihren eigenen Interessen. Wir ziehen uns in das nationale Schneckenhaus zurück, fühlen uns wieder einmal umzingelt, sehen Gegner, wo nur verzweifelte und verschuldete Nachbarn sind, und allerorts knebelnde Abhängigkeitsverhältnisse herandräuen. Wieder weiß angeblich Deutschland, wie es geht. Wieder weiß aber keiner, wie man den Druck und die Verachtung aus der Stimme nehmen kann. Lieber ergötzen wir uns daran, den anderen, die immer Party machen wollten, die Rechnung zu präsentieren und sie zudem auch noch zu beflegeln.

Wir erkennen die Leistungen der Staaten nicht an. Wir sehen nicht, woher diese Länder kommen. Und was sie für Europa getan haben – jenseits von monetären Leistungen. Antonio Munoz Molina, Schriftsteller aus Spanien, hat es in der letzten Woche im SPIEGEL wunderbar formuliert. Er schrieb über sein Heimatland: „Beinahe aus dem Nichts haben wir eine Demokratie aufgebaut ... Wir haben sogar viele Jahre lang – und zwar in strikt legalen Grenzen – einer terroristischen Organisation standgehalten ... Wir haben in einer einzigen Generation die Gleichberechtigung von Mann und Frau erreicht sowie ein Klima der Toleranz geschaffen, in dem heute die Homosexuellen-Ehe mehrheitlich akzeptiert wird ... Es wäre empörend, wenn sich nach einem Vierteljahrhundert europäisch-bürgerlicher Aufgeklärtheit zähe Vorurteile als mächtiger erweisen als die Realität.“ Diesem Hilferuf haben wir nur verächtliche Sparappelle entgegenzusetzen. Die impertinente Dominanz finanzpolitischer Entscheider hat unseren Blick verengt. Wir fürchten um unsere Pfründe und lassen die Bügel unserer Geldbeutel schneller zuschnappen, als der Geizige von Molière sein Portemonnaie angesichts eines Bittstellers schließen würde. Es wird wieder Lager gespielt. Nord gegen Süd. Kluge und effiziente Deutsche gegen faule und korrupte Südländer. Getreu dem Motto: Wieso ein Geisterfahrer? Tausende!

Menschen vergessen nicht, wenn sie, gedemütigt genug vom eigenen Versagen, auch noch den arroganten Ratschlag des vermeintlichen Gewinners ertragen müssen. Und wir Deutschen machen einen Fehler historischen Ausmaßes, wenn wir uns lediglich an den naseweisen Ratschlägen eines Münchner Ökonomen mit Backenbart abarbeiten und uns wie ein mürrischer Glückskeks billiger Selbsterfüllung hingeben. Warum haben wir nicht den Mut, über die Landesgrenzen hinaus zu denken und eine neue Idee eines vereinten Europas zu entwickeln? Eine Idee, die ein Europa der Menschen als ihren Kern definiert. Eine Idee, die exportierbar ist wie die Effizienz deutscher Autos und die Schönheit italienischer Produkte, wie der unbedingte Wille zur persönlichen Freiheit aus England und dem selbstverständlichen Stolz Frankreichs. Wie die Erkenntnis, dass aus einem verlorenen Ostblockstaat wie Polen ein prosperierendes Land werden kann – eben eine Blaupause für viele andere Regionen der Welt.

Zu dieser Idee könnte gehören, dass man sich nicht ausschließlich in mikroökonomischen Subtilitäten ergeht, sondern darüber nachdenkt, ob sich auch ohne Wasserkopf und Bürokratie gemeinsame Standards einer Verfassung entwickeln ließen. Für die nationale Politik war und ist Brüssel eine Endlagerstätte für gescheiterte Politiker. Stoiber aus Bayern, Skargil aus England – alle ins Austragshäuserl nach Brüssel. Hinzu kommt eine geradezu absurd kafkaeske Bürokratie, vor der viele in Europa Angst haben. Es wird auf Jahre hinaus ein Gefälle zwischen dem Süden und dem Norden geben. Nur mit einer transparenten, klar nachvollziehbaren Ausgabenpolitik, der immer ein Ziel, eine Perspektive innewohnt, kann man den sogenannten Geberländern weitere Belastungen zumuten. Und das Gleiche gilt für die Empfänger: Tödliches Sparen hat keine Perspektive. Wer jetzt leidet, wird dies nur weiter ohne Widerstand tun, wenn wenigstens seine Kinder eine Zukunft haben. Wer Europa neu denkt, muss die Festung Brüssel schleifen.

Und zu dieser Idee gehört auch die Feststellung, dass nicht jede Region Motor des gesamten Europas sein wird und kann. Und dass daraus folgen könnte, dass in einem anders, besser gedachten Europa auch die Idee einer neuen Regionalisierung enthalten ist. Eine, die nicht nach dem Gießkannenprinzip funktioniert. Die auch das heiße Eisen der Entsiedelung beinhaltet. Vielleicht definieren sich Menschen weniger über den Nationalstaat als über die Region, in der sie leben. Regionen haben mehr Bindungskräfte und individuelle Lösungen, als wir uns vorstellen. Das Baltikum, Irland oder Holland beweisen das. Wer in Oberbayern lebt, hat mehr Bezugspunkte zu den Nachbarn in Tirol und Südtirol als zu Brandenburgern und Ostfriesen. Grenzen sind nicht gottgegeben. Nicht, wenn man den alten Schuh des Nationalismus in die Tonne tritt. Die Verknappung von Ressourcen wird eine autonome Versorgung kleinerer Kommunal-Einheiten forcieren.

Vielleicht liegt genau in diesem Gegensatz die Zukunft dieses Kontinents. Statt einer Zentralstaat-Idee ist es ein Sammelbecken der Regionen, die mit wenigen und groben Mitteln miteinander verbunden sind. Die aber eines eint: die wertvolle und nie unmodern gewordene Idee der Aufklärung, dass jedem Menschen persönliche Handlungsfreiheit und Bürgerrechte zustehen. Unsere Demokratie ist nicht gottgegeben. Sie sollte veränderbar sein, sich anpassen und reformierbar sein. Und dazu gehört auch der Mut, in anderen Kategorien zu denken und nicht nur platonische Gescheitheiten abzusondern, die dem politischen Handeln vermeintliche „Alternativlosigkeit“ statt visionärem Denken verordnen. Es ist Zeit für neue Idee. Es ist Zeit für Seborga.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Calsow

Schriftsteller ("Quercher und die Thomasnacht", "Quercher und der Volkszorn", "Quercher und der Totwald") und Journalist, lebt am Tegernsee.

Martin Calsow

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