Gestrandet in Indien

Journal Während ich für einen Forschungsaufenthalt nach Indien reise, wird Deutschland zum Corona-Risikogebiet. Kurz darauf wird auch Indien von einer Ereigniswelle überrollt

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Es war absehbar, dass Corona um Indien nicht ewig einen Bogen machen würde
Es war absehbar, dass Corona um Indien nicht ewig einen Bogen machen würde

Foto: Yawar Nazir/Getty Images

Ich bin gestrandet in Indien. Obwohl, bin ich das streng genommen überhaupt?Streng genommen bin ich gestrandet in Ungewissheit. Ich bin für einen Forschungsaufenthalt in Indien – seit Januar bin ich hier, planmäßig enden würde er Anfang Mai. Und dann kam Corona. Internationale Flüge vorerst ausgesetzt, wann man wieder mit Flügen rechnen kann weiß derzeit wohl niemand.

Aber ich habe großes Glück. Ich sitze nicht in irgendeinem Hotel fest, sondern auf einer Farm bei Freunden. Gerade rechtzeitig hatte ich die 24-stündige Busreise angetreten und der Großstadt in Bangalore den Rücken gekehrt. Mitte März.

In Deutschland wird zu dieser Zeit allmählich das Ausmaß der Krise deutlich. Ich spreche mit meiner Familie und mit Freunden und es ist ein seltsam bedrückendes Gefühl aus Ferne zu beobachten wie in Deutschland das gewohnte Leben Schritt für Schritt aber dennoch in rasantem Tempo zusammenbricht. Die Panik, die sich bei meinen Angehörigen allmählich ausbreitet ist unüberhörbar, unübersehbar und sie schmerzt. Denn in dieser Panik steckt viel mehr Aussagekraft über die Situation in Deutschland, als in den Fotos irgendwelcher leergefegter Städte und Straßen, in irgendwelchen Zeitungen. Sie ist sozusagen der einzige emotionale Schlüssel zu den Ereignissen in meiner Heimat. Wenn Menschen, die normalerweise in jeder Situation ruhig und besonnen sind, in Weltuntergangsstimmung geraten, dann läuft etwas gewaltig schief! Ich male mir geisterhafte Straßenzüge in meinen Viertel in Hamburg aus. Das beklemmende Gefühl, das einen ergreifen muss, wenn plötzlich alles aus den Fugen gerät und man in einem Land wie Deutschland in die eigenen vier Wände verbannt wird. Es hat etwas unheimliches, bedrückendes. Meine Heimat, meine Freunde, mein Alltag, all das im Krisenmodus. In Indien von all dem bis dato noch kaum eine Spur.

Irgendwie war dennoch absehbar, dass Corona um Indien nicht ewig einen Bogen machen würde. Einzelne Fälle hatte es bereits gegeben. Ich hatte ohnehin Termine im Nordwesten des Landes und entschied mich daher dafür, diese Reise erst einmal anzutreten. Unterkunft würde ich bei meinen Freunden finden und zugleich könnte ich von einem sicheren Ort aus beobachten, wie die Lage sich weiter entwickeln würde und dann, nach ein, zwei Wochen neu entscheiden - dachte ich. Doch dann überschlugen sich die Ereignisse. Innerhalb weniger Tage wurde das gesamte öffentliche Leben lahmgelegt. Man befindet sich in einem Zustand, in dem das Gehirn kaum mit dem Verarbeiten der täglichen Nachrichten hinterher kommt. Das Auswärtige Amt stampfte innerhalb kürzester Zeit ein Rückholprogramm für in Indien gestrandete Touristen aus dem Boden. Und es stellt sich plötzlich auch für mich die Frage: Gehen oder bleiben?

Während die Tage hier auf der Farm auf eine fast surreale Art und Weise dahin kriechen, rast die Welt in atemberaubendem Tempo weiter. Die Corona-Lage in Indien hat sich so schnell verändert, dass man kaum Zeit hat, sich der jeweils aktuellen Situation richtig bewusst zu werden. Im ersten Schritt wurde der öffentliche Nah- und Fernverkehr eingestellt, keine Flüge, keine Busse, keine Züge mehr und ich realisiere, dass ich nun zumindest vorerst hier tatsächlich nicht mehr wegkomme. Trotzdem: Gut, dass ich die Entscheidung getroffen habe, herzukommen. Das Studentenwohnheim, in dem ich in Bangalore vorübergehend wohne, wurde ohne mit der Wimper zu zucken und auf unbestimmte Zeit geschlossen. Man hätte mich dort eiskalt auf die Straße gesetzt! Und ob ich in dieser Situation kurzfristig eine bezahlbare Unterkunft gefunden hätte, wage ich zu bezweifeln. Die Aufregung ist überall groß, als Modi Hals über Kopf eine Ausgangssperre verhängt und damit für Tausende, wenn nicht Millionen von Menschen eine prekäre Situation schafft.

Indien steht still. Von jetzt auf gleich. Was in Deutschland die osteuropäischen Erntehelfer sind, sind in Indien Gastarbeiter vor allem aus den nordöstlichen Bundesstaaten, die in den südlichen Bundesstaaten arbeiten. Sie alle sitzen nun in irgendwelchen fremden Städten fest. Weit weg von ihren Familien und ohne Arbeit. Nach nur wenigen Tagen machen sie sich zu Fuß auf den Weg in ihre Heimatdörfer. Der Premierminister reguliert nach, verspricht Hilfspakete für Tagelöhner und Flugzeuge und Busse für die Wanderarbeiter.
Während in den ersten drei Tagen, die Stimmung recht bedrohlich erschien und man die soziale Eskalation schon am Horizont zu sehen glaubte, scheint die Lage sich nun doch etwas zu beruhigen. Dennoch herrscht ein unfassbarer Ausnahmezustand.

Über das Netzwerk mit den Expats in Bangalore, bekomme ich live mit, wie sich die Situation in der Großstadt täglich verändert und dass die Lage fürAusländer derzeit jedenfalls angespannt ist. Kein Wunder! Was in Deutschland über mehrere Wochen Schrittweise umgesetzt wurde, wurde hier innerhalb von drei Tagen angeordnet. Essensbestellungen kommen nicht an, weil die die Lieferboys, von der Polizei verprügelt werden und Vorratslieferungen für die Märkte werden an den innerstaatlichen Grenzen zurückgehalten. Indien ist ein enorm großes Land, etwa so groß wie Westeuropa und mindestens genauso divers und es ist bei allem Fortschritt noch immer ein Entwicklungsland. Korruption ist weit verbreitet, genauso wie polizeiliche Willkür, vielmehr geht beides Hand in Hand. Ein Gesetz mag da ein Gesetz sein und ein Erlass ein Erlass, was jeder Bundesstaat und jeder Polizist dann daraus macht, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Den Expats droht das Essen knapp zu werden, weil die Fahrer nicht durchkommen und Shopping-Malls geschlossen sind. Der ein oder andere möchte alleine nicht mehr auf die Straße gehen. Die Community sitzt hinter ihren Zäunen, in ihren Appartements fest. Bislang ist es nur eine vage Nervosität die umhergeht. Um dem Chaos entgegenzuwirken weist die lokale Regierung noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass Essenlieferungen weiterhin zugelassen sind. In der Zeitung liest man Artikel von weißen Touristen, denen die indische Lokalbevölkerung nun skeptisch gegenüber tritt, keine Hotelzimmer mehr anbietet und sie mit „Corona“ betitelt. Bei mir auf dem Land schaut nach zwei Tagen das Gesundheitsamt vorbei. Ihnen wurde mitgeteilt, dass hier ein Ausländer lebt, nun wollen sie meine Gesundheit überprüfen. Sehr höflich kommen sie ihren Anordnungen von oben nach. Dass ich schon seit Anfang Januar im Land bin, beeindruckt sie nicht. Sie werden von nun an für zwei Wochen regelmäßig nach mir sehen. Es wird die Empfehlung ausgesprochen, dass ich das Gelände nicht verlassen sollte. Letzteres hat für mich auf Grund der inzwischen verhängten Ausgangssperre allerdings nur wenig Bedeutung. Gut, nun sitze ich auf dem Land fest. Schlecht, für meine weitere Forschungsarbeit. Ändern aber lässt es sich jedenfalls vorerst nicht. Ich ergreife erste Notmaßnahmen und lasse mir von einem Freund mobiles Internet, Zigaretten und Schokolade aus der Stadt mitbringen. Grundversorgung ist nun also definitiv gesichert.

Zurück also zu meiner Frage, gehen oder bleiben?

Hier lebe ich nun vorerst in einer Gruppe von zehn Menschen auf einem großen Farmgelände. Das Leben hier ist einfach: Leben in Lehmhütten (und ohne Klopapier!), Wäsche wird mit der Hand gewaschen und nachts kommen die Ratten und Gekkos in mein Zimmer – aber sie interessieren sich hier draußen in der Natur nicht für mich. Auf dem Waschbecken im Bad sitzt manchmal ein Frosch. Der Garten und die nächstgelegene Kleinstadt bieten alles, was man zum Leben braucht. Tropenfrüchte wachsen an den Bäumen, direkt vor meiner Tür – süße Früchte im Überfluss, für die es teilweise im Deutschen nicht einmal einen Namen gibt. Die Sonne scheint beständig jeden Tag von früh bis spät und die Bäume bieten einen angenehmen Schatten, in dem es sich problemlos aushalten lässt. Über den Palmen zwitschern Vögel, Schmetterlinge schwirren mir um den Kopf, während ich zwischen den Beten spaziere. Ein ziemliches Paradies, für mich jedenfalls, wenn auch ein bescheidenes. Manchmal drängt sich mir der Gedanke auf, ob dies nicht ohnehin der beste Ort ist, wo man in diesen Zeiten sein kann. Die Gegend ist sehr ländlich, von dem zunehmenden Chaos drum herum, bekommt man hier nicht viel mit und noch dazu, kann man sich hier zur Not, wenn die Versorgung eng werden sollte, selbst versorgen.

Dann aber kommt das ABER. Die Zeiten sind ungewiss, niemand weiß wie die Lage sich entwickeln wird, weder hier, noch in Deutschland, noch international. Und niemand weiß, wann es wieder Flüge geben wird. Auf unbestimmte Zeit hier bleiben? Das war eigentlich mal mein Traum. Aber in dieser Situation? Ich habe Familie zu Hause. Keine Kinder, aber Familie. Schon aus diesem Grund ist es irgendwie keine Option. Die Weltuntergangsstimmung, die noch vor wenigen Tagen aus dem Telefon über zehntausende Kilometer Distanz in mein Leben schwappte, ist nun hier vor Ort angekommen und hat sich durch die sozialen Netzwerke bis zu dieser kleinen Gemeinschaft auf dem Land durchgefressen. Corona ist da! Endgültig. Während die einen schon jetzt sicher zu wissen glauben, dass man für die nächsten drei Monate Vorräte an Lebensmitteln anlegen sollte, können die anderen die Gesamtsituation noch immer nicht ganz glauben.

Wider telefoniere ich mit meiner Familie: „Komm sofort zurück nach Deutschland!“

Meine Familie drängt mich, mich schnellstmöglich für die Rückholung anzumelden, was ich aus Vernunftserwägungen auch umgehend tue. Nun muss ich mich mit dem Gedanken anfreunden meine Sachen, inklusive eines teuren Laptops, die ich im Studentenwohnheim in Bangalore gelassen hatte, weil ich sie dort in Sicherheit wähnte auf unbestimmte Zeit zurückzulassen. Das ist bitter. Aber die Strecke von hier nach Bangalore ist dieser Tage nicht zu überbrücken – unter keinen Umständen. Das versichert mir auch das Konsulat und rät mir mich für eine Rückführung an die KollegInnen in Mumbai zu wenden. Irgendwann, in einer anderen Zeit, wird eine Freundin mir einen Teil davon schicken können. Aber ich gebe zu, es hat nochmal zwei Tage gebraucht, diese Tatsache zu akzeptieren.

Die Vorstellung in ein graues kaltes Deutschland zurückzufliegen und dort in meiner Wohnung festzusitzen ist kein bisschen verlockend. Ich male mir aus, wie das Leben in Deutschland nun sein wird. Home Office, zu zweit auf 30 qm. Sport fällt aus. Ganz zu schweigen von den finanziellen Einbußen, die wir schon jetzt haben. Aber das Leben hier lehrt einen auch Demut. Viele Dinge, die uns umtreiben sind, wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, keine echten Probleme. Schon gar nicht in Anbetracht der Armut, in der Menschen hier leben. Oftmals sind wir von einer Konsumgesellschaft fehlgeleitet, die uns das Wesentliche vergessen lässt, dabei ist es doch das Wesentliche, was uns glücklich macht.

Nun warte ich also mal mehr und mal weniger widerwillig auf meine Rückführung nach Deutschland und lege unter Palmen in der Sonne, ein Süßkartoffelfeld an. Für schlechte Zeiten. Ich hoffe das meine Freunde, die mir hier Unterkunft und Verpflegung gewähren in einer nicht allzu fernen aber ungewissen Zukunft etwas davon haben werden, wenn ich schon längst nicht mehr da bin. Ich gebe etwas zurück – wenigstens ein bisschen.

Gestern wurde ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Ich schlafe in einer Hütte, deren Fenster und Türen aus Bambus bestehen – jeder könnte jederzeit hier eindringen. Unweit von meinem Fenster ist ein Tumult ausgebrochen. Das übrige Gelände und die Hütten, in denen meine Freunde schlafen liegen einige Meter entfernt im Dunkeln. Ein Fahrzeug ist unterwegs, es klingt wie ein Transporter, begleitet von einem Geräusch, dass ich nicht zuordnen kann – es erinnert an Feuerwerkskörper. Ich schrecke aus einem Weltuntergangstraum auf, spähe aus dem halb geöffneten Fenster, kann nichts erkennen. Die Stimmen sind vielleicht zehn Meter von mir entfernt und scheinen sich auf uns zu zubewegen. Meine Gedanken und mein Puls rasen. Heute Mittag war die Polizei mit mehreren Wagen auf dem Nachbargelände zu Gange? Kommen sie zurück? Was passiert hier? Mitten in der Nacht? Das kann nichts gutes Bedeuten! Oder sind es aufgebrachte Dorfbewohner die beschlossen haben, es nicht länger zu tolerieren, dass hier ein Ausländer wohnt? Ich springe auf und verstecke mich mit rasendem Puls in der Küche des Nachbargebäudes, wo auch die Familie schläft. Dann entdecke ich, durch das Gestrüpp auf unserem Gelände, ein Feuer. Daher das Knistern! Ich bin in diesem Moment erfasst von einer derart grundlegenden Angst, wie sie einen wohl nur ergreifen kann, wenn nichts mehr sicher zu sein scheint.

Im Nachhinein klärt sich die Situation auf. Es waren die Zuckerrohr-Bauern, die ihre Felder in Brand setzen. Mit Corona hat das nichts zu tun. Sie zwingen auf diese Weise die Fabrik, ihnen schnellstmöglich Transporter für die Ernte zu schicken. So ist das in einer Welt, in der nichts mehr ist, wie es einmal war, in einem völlig fremden Land. Am nächsten Morgen gehe ich aufs Feld, arbeite weiter im Garten unter Palmen und genieße die Sonne. Ich sollte auch in Deutschland ein Beet anlegen, denke ich und fange an, mir auszumalen, wie man dieses neue Leben in Deutschland wohl erträglich gestalten kann.

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